Page - 189 - in Radetzkymarsch
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Stellen bekanntzugeben, daß die Armee ebenfalls Opfer zu beklagen habe und
daß die politische Behörde des Grenzorts die Verantwortung trüge und daß die
Gendarmerie rechtzeitig hätte verstärkt werden müssen. Es entstanden
unermeßlich große Akten über den Fall Leutnant Trottas, und die Akten
wuchsen, und jede Stelle jedes Amtes bespritzte sie noch mit etwas Tinte, wie
man Blumen begießt, damit sie wachsen, und die ganze Angelegenheit wurde
schließlich dem Militärkabinett des Kaisers unterbreitet, weil ein besonders
umsichtiger Ober-Auditor entdeckt hatte, daß der Leutnant ein Enkel jenes
verschollenen Helden von Solferino war, der in ganz vergessenen, jedenfalls
aber intimen Beziehungen zum Allerhöchsten Kriegsherrn gestanden hatte;
und daß also dieser Leutnant allerhöchste Stellen interessieren müßte; und
daß es besser wäre abzuwarten, ehe man eine Untersuchung begänne.
So mußte sich der Kaiser, der soeben aus Ischl zurückgekehrt war, eines
Morgens um sieben Uhr mit einem gewissen Carl Joseph Freiherrn von Trotta
und Sipolje beschäftigen. Und da der Kaiser schon alt war, wenn auch durch
den Aufenthalt in Ischl erholt, konnte er es sich nicht erklären, weshalb er
beim Lesen dieses Namens an die Schlacht bei Solferino denken mußte, und
er verließ seinen Schreibtisch und ging mit kurzen Greisenschritten in seinem
dürftigen Arbeitszimmer auf und ab, auf und ab, so daß es seinen alten
Leibdiener verwunderte und daß dieser, unruhig geworden, an die Tür
klopfte.
»Herein!« sagte der Kaiser. Und als er seinen Diener erblickte: »Wann
kommt denn der Montenuovo?«
»Majestät, um acht Uhr!«
Es war noch eine halbe Stunde bis acht. Und der Kaiser glaubte, diesen
Zustand nicht mehr ertragen zu können. Warum, warum erinnerte ihn nur der
Name Trottas an Solferino? Und warum konnte er sich nicht mehr an die
Zusammenhänge erinnern? War er denn schon so alt geworden? Seitdem er
aus Ischl zurückgekehrt war, beschäftigte ihn die Frage, wie alt er eigentlich
sei, denn es erschien ihm plötzlich merkwürdig, daß man zwar das
Geburtsjahr vom laufenden Kalenderjahr subtrahieren müsse, um sein Alter
zu wissen, daß aber die Jahre mit dem Monat Januar begannen und daß sein
Geburtstag auf den achtzehnten August fiel! Ja, wenn die Jahre mit dem
August begonnen hätten! Und wenn er zum Beispiel am achtzehnten Januar
geboren worden wäre, dann wär’s auch eine Kleinigkeit gewesen! So aber
konnte man unmöglich genau wissen, ob man zweiundachtzig und im
dreiundachtzigsten war oder dreiundachtzig und im vierundachtzigsten! Und
er mochte nicht fragen, der Kaiser. Alle Welt hatte sowieso viel zu tun, und es
lag auch gar nichts daran, ob man ein Jahr jünger oder älter war, und am Ende
hätte man sich auch als ein Jüngerer nicht erinnert, warum dieser verflixte
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book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik