Page - 194 - in Radetzkymarsch
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er war der Allerhöchste Kriegsherr! Jeder Soldat schwor bei Gott, dem
Allmächtigen, Kaiser Franz Joseph dem Ersten Treue. Er war eine Majestät
von Gottes Gnaden, und er glaubte an Gott, den Allmächtigen. Hinter dem
goldgestirnten Blau des Himmels verbarg er sich, der Allmächtige –
unvorstellbar! Seine Sterne waren es, die da am Himmel glänzten, und Sein
Himmel war es, der sich über die Erde wölbte, und einen Teil der Erde,
nämlich die österreichisch-ungarische Monarchie, hatte Er Franz Joseph dem
Ersten zugeteilt. Und Franz Joseph der Erste war ein magerer Greis, stand am
offenen Fenster und fürchtete, jeden Augenblick von seinen Wächtern
überrascht zu werden. Die Grillen zirpten. Ihr Gesang, unendlich wie die
Nacht, weckte die gleiche Ehrfurcht im Kaiser wie die Sterne. Zuweilen war
es dem Kaiser, als sängen die Sterne selbst. Es fröstelte ihn ein wenig. Aber er
hatte noch Angst, das Fenster zu schließen, es gelang vielleicht nicht mehr so
glatt wie früher. Seine Hände zitterten. Er erinnerte sich, daß er vor langer
Zeit schon Manöver in dieser Gegend besucht haben mußte. Auch dieses
Schlafzimmer tauchte aus vergessenen Zeiten wieder empor. Aber er wußte
nicht, ob zehn, zwanzig oder mehr Jahre seit damals verflossen waren. Ihm
war, als schwämme er auf dem Meer der Zeit – nicht einem Ziel entgegen,
sondern regellos auf der Oberfläche herum, oft zurückgestoßen zu den
Klippen, die er schon gekannt haben mußte. Eines Tages würde er an
irgendeiner Stelle untergehen. Er mußte niesen. Ja, sein Schnupfen! Nichts
rührte sich im Vorzimmer. Vorsichtig schloß er wieder das Fenster und tappte
mit seinen mageren, nackten Füßen zum Bett zurück. Das Bild vom blauen,
gestirnten Rund des Himmels hatte er mitgenommen. Seine geschlossenen
Augen bewahrten es noch. Und also schlief er ein, überwölbt von der Nacht,
als läge er im Freien.
Er erwachte wie gewöhnlich, wenn er »im Felde« war (und so nannte er die
Manöver), pünktlich um vier Uhr morgens. Schon stand sein Diener im
Zimmer. Und hinter der Tür warteten schon, er wußte es, die Leibadjutanten.
Ja, man mußte den Tag beginnen. Man wird den ganzen Tag kaum eine
Stunde allein sein können. Dafür hatte er sie alle in dieser Nacht überlistet
und war eine gute Viertelstunde am offenen Fenster gestanden. An dieses
schlau gestohlene Vergnügen dachte er jetzt und lächelte. Er schmunzelte den
Diener und den Burschen an, der jetzt eintrat und leblos erstarrte, erschreckt
vom Schmunzeln des Kaisers, von den Hosenträgern Seiner Majestät, die er
zum erstenmal in seinem Leben sah, von dem noch wirren, ein bißchen
verknäuelten Backenbart, zwischen dem das Schmunzeln hin und her huschte
wie ein stilles, müdes und altes Vögelchen, vor der gelben Gesichtsfarbe des
Kaisers und vor der Glatze, deren Haut sich schuppte. Man wußte nicht, ob
man mit dem Greis lächeln oder stumm warten sollte. Auf einmal begann der
Kaiser zu pfeifen. Er spitzte wahrhaftig die Lippen, die Flügel seines Bartes
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik