Page - 199 - in Radetzkymarsch
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geradezu den Menschen und der Erde davon. Alle wurden sie immer kleiner,
je länger er sie ansah, und ihre Worte trafen wie aus weiter Ferne sein Ohr
und fielen wieder ab, ein gleichgültiger Schall. Und wenn dem und jenem ein
Unglück zustieß, sah er wohl, daß sie sich Mühe gaben, es ihm behutsam zu
erzählen. Ach, sie wußten nicht, daß er alles vertragen konnte! Die großen
Schmerzen waren schon heimisch in seiner Seele, und die neuen Schmerzen
kehrten nur wie längst erwartete Brüder zu den alten ein. Er ärgerte sich nicht
mehr so heftig. Er freute sich nicht mehr so stark. Er litt nicht mehr so schwer.
Nun ließ er tatsächlich die »Kampfhandlungen abbrechen«, und die
Defilierung sollte beginnen. Auf den uferlosen Feldern stellten sie sich auf,
die Regimenter aller Waffengattungen, leider in Feldgrau (auch so eine
moderne Sache, die dem Kaiser nicht am Herzen lag). Immerhin brannte noch
das blutige Rot der Kavalleriehosen über dem dürren Gelb der Stoppelfelder
und brach aus dem Grau der Infanteristen durch wie Feuer aus Wolken. Die
matten und schmalen Blitze der Säbel zuckten vor den marschierenden
Reihen und Doppelreihen, die roten Kreuze auf weißem Grund leuchteten
hinter den Maschinengewehrabteilungen. Wie alte Kriegsgötter auf ihren
schweren Wagen rollten die Artilleristen heran, und die schönen braunen und
falben Rösser bäumten sich in starker und stolzer Gefügigkeit. Durch den
Feldstecher sah Franz Joseph die Bewegungen jedes einzelnen Zuges, ein
paar Minuten lang fühlte er Stolz auf seine Armee und ein paar Minuten auch
Bedauern über ihren Verlust. Denn er sah sie schon zerschlagen und verstreut,
aufgeteilt unter den vielen Völkern seines weiten Reiches. Ihm ging die große
goldene Sonne der Habsburger unter, zerschmettert am Urgrund der Welten,
zerfiel in mehrere kleine Sonnenkügelchen, die wieder als selbständige
Gestirne selbständigen Nationen zu leuchten hatten. Es paßt ihnen halt
nimmer, von mir regiert zu werden! dachte der Alte. Da kann man nix
machen! fügte er im stillen hinzu. Denn er war ein Österreicher …
Also stieg er zum Entsetzen aller Kommandierenden von seinem Hügel
und begann, die reglosen Regimenter zu mustern, beinahe Zug für Zug. Und
gelegentlich ging er zwischen den Reihen durch, betrachtete die neuen
Tornister und die Brotsäcke, zog hier und dort eine Konservenbüchse heraus
und fragte, was sie enthielte, sah hier und dort ein stumpfes Angesicht und
befragte es nach Heimat, Familie und Beruf, vernahm kaum diese und jene
Antwort, und manchmal streckte er die alte Hand aus und klopfte einem
Leutnant auf die Schulter. So gelangte er auch zum Bataillon der Jäger, in
dem Trotta diente.
Es war vier Wochen her, daß Trotta das Spital verlassen hatte. Er stand vor
seinem Zug, blaß, mager und gleichgültig. Als sich ihm aber der Kaiser
näherte, begann er, seine Gleichgültigkeit zu bemerken und zu bedauern. Er
hatte das Gefühl, eine Pflicht zu versäumen. Fremd geworden war ihm die
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik