Page - 204 - in Radetzkymarsch
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Bezirkshauptmann, als bestünde plötzlich die ganze Welt aus Tschechen:
einer Nation, die er für widerspenstig, hartköpfig und dumm hielt und
überhaupt für die Erfinder des Begriffes Nation. Es mochte viele Völker
geben, aber keineswegs Nationen. Und außerdem kamen verschiedene, kaum
verständliche Erlässe und Verfügungen der Statthalterei betreffend eine
gelindere Behandlung der »nationalen Minoritäten«, eines jener Worte, die
Herr von Trotta am tiefsten haßte. Denn »nationale Minoritäten« waren für
seine Begriffe nichts anderes als größere Gemeinschaften »revolutionärer
Individuen«. Ja, er war von lauter revolutionären Individuen umgeben. Er
glaubte sogar zu bemerken, daß sie sich in einer widernatürlichen Weise
vermehrten, in einer Weise, wie sie dem Menschen nicht entspricht. Es war
für den Bezirkshauptmann ganz deutlich geworden, daß die »staatstreuen
Elemente« immer unfruchtbarer wurden und immer weniger Kinder bekamen,
wie die Statistiken der Volkszählungen bewiesen, in denen er manchmal
blätterte. Er konnte sich nicht mehr den schrecklichen Gedanken verhehlen,
daß die Vorsehung selbst mit der Monarchie unzufrieden war, und obwohl er
im gewöhnlichen Sinne ein zwar praktizierender, aber nicht sehr gläubiger
Christ war, neigte er immer noch zu der Annahme, daß Gott selbst den Kaiser
strafe. Er kam allmählich auf allerlei sonderbare Gedanken überhaupt. Die
Würde, die er seit dem ersten Tage trug, an dem er Bezirkshauptmann in W.
geworden war, hatte ihn zwar sofort alt gemacht. Auch als sein Backenbart
noch ganz schwarz gewesen war, wäre es keinem Menschen eingefallen,
Herrn von Trotta für einen jungen Mann zu halten. Und dennoch begannen
die Menschen in seinem Städtchen jetzt erst zu sagen, daß der
Bezirkshauptmann alt werde. Allerhand längst vertraute Gewohnheiten hatte
er ablegen müssen. So ging er zum Beispiel seit dem Tode des alten Jacques
und seit der Rückkehr aus der Grenzgarnison seines Sohnes nicht mehr am
Morgen vor dem Frühstück spazieren, aus Angst, eines der so häufig
wechselnden verdächtigen Subjekte, die bei ihm Dienst taten,
könnte vergessen haben, die Post auf den Frühstückstisch zu legen oder gar
das Fenster zu öffnen. Er haßte seine Haushälterin. Er hatte sie schon immer
gehaßt, aber hie und da ein Wort an sie gerichtet. Seitdem der alte Jacques
nicht mehr servierte, enthielt sich der Bezirkshauptmann jeder Bemerkung bei
Tisch. Denn in Wirklichkeit waren seine hämischen Worte immer für Jacques
gewesen und gewissermaßen Werbungen um den Beifall des alten Dieners.
Jetzt erst, seitdem der Alte tot war, wußte Herr von Trotta, daß er nur für
Jacques gesprochen hatte, einem Schauspieler ähnlich, der einen langjährigen
Verehrer seiner Kunst im Parkett weiß. Und hatte der Bezirkshauptmann
immer hastig gegessen, so bemühte er sich jetzt, schon nach den ersten Bissen
den Tisch zu verlassen. Denn es erschien ihm lästerlich, den Tafelspitz zu
genießen, dieweil die Würmer den alten Jacques im Grabe fraßen. Und wenn
er auch dann und wann den Blick nach oben richtete, in der Hoffnung und in
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik