Page - 26 - in Tonka
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vorkommen. Theoretisch hingegen? Der alte Arzt, zu dem er Tonka anfangs
gebracht hatte, nachdem er allein bei ihm zurückgeblieben war, hatte die
Achseln gezuckt: Möglich? Gewiß unmöglich nicht – er hatte gute, hilflose
Augen, aber er schien sagen zu wollen: Halten wir uns nicht dabei auf, es
liegt unter der für menschliches Ermessen nötigen Wahrscheinlichkeit. Auch
ein Gelehrter ist ein Mensch, und ehe er etwas annimmt, das medizinisch
ganz unwahrscheinlich ist, nimmt er lieber einen menschlichen Fehler als
Ursache an; in der Natur sind die Ausnahmen selten.
Es war also das nächste eine Art medizinische Prozeßsucht. Er wurde Gast
bei vielen Ärzten. Der zweite Arzt schloß ebenso wie der erste, und der dritte
wie der zweite. Er feilschte. Er trachtete Auffassungen medizinischer Schulen
gegeneinander auszuspielen. Die Herren hörten ihm schweigend zu oder auch
liebevoll lächelnd wie einem Narren und unverbesserlichen Dummkopf. Und
natürlich wußte er selbst, während er redete, er hätte ebensogut fragen
können: ist eine jungfräuliche Zeugung möglich? Und man hätte ihm nur zu
antworten vermocht: sie war noch nie da. Nicht einmal ein Gesetz hätte man
angeben können, das sie ausschloß; bloß: sie war noch nie da. Und doch wäre
er ein unverbesserlicher Hahnrei, wollte er sich das einbilden!
Vielleicht hatte ihm das auch einer ins Gesicht gesagt, mit dem er sprach,
oder es war ihm doch nur selbst durch den Kopf gefahren, es hätte ihm
jedenfalls selbst einfallen können. Aber gerade weil man nicht einen
Kragenknopf schließen könnte, wollte man zuvor alle möglichen
Fingerkombinationen durchdenken, stand während der ganzen Zeit neben der
Gewißheit seines Verstandes eine andere Unmittelbarkeit: Tonkas Gesicht.
Man geht zwischen Kornfeldern, man fühlt die Luft, die Schwalben fliegen,
in der Ferne die Türme der Stadt, Mädchen mit Liedern … man ist fern aller
Wahrheit, man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt. Tonka
war in die Nähe tiefer Märchen gerückt. Das war die Welt des Gesalbten, der
Jungfrau und Pontius Pilatus, und die Ärzte sagten, daß Tonka geschont und
gepflegt werden müßte, sollte sie ihren Zustand überdauern.
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Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik