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Ära zn leiden hatte. Es ist für uns, die wir die künstlerische Verjüngung dcr Metropole
des Reiches erlebt haben, kaum faßbar, mit welch schmaler Hausmannskost die Stadt
Beethovens und Schuberts, Raimunds undGrillparzers iu allem, was die bauliche Gestaltung
und den Schmuck des Lebens betraf, sich begnügen mußte. Im Thefcustcmvel des Volks-
gartens und im äußeren Burgthor haben wir die höchsten Leistungen vor Augen, welche
das akademische Griechcnthum eines Peter von Nobilc zu schaffen im Stande war. Die
Franzensburg im Laxenburger Park mag als Maßstab dienen für die gothischen Vor-
stellungen der damaligen Romantiker. Daran reihen sich die Bauten eines Picht, Tchemerl,
Sprenger: die Statthalterei, das Hanptzollamt, die technische Hochschnle, das nene Landhans
und ihresgleichen, zum Theil Werke von stattlicher und würdiger Erscheinnng, aber aus-
getrocknet wie die Bureauluft, in der fie entstanden sind, bar jeder individuellen künstlerischen
Empfindung und vollends ohne die geringste Spur localer Charakteristik,
Erst das Jahr 1848 hat auch auf diefem Gebiete die Kräfte frei gemacht, die
Architektur den Künstlern zurückgegeben und in den schaffenden Geistern der neuen Zeit
das Bewußtsein des Volkslhums erweckt, welchem sie zu dienen, dessen Wesen und
Eigenthümlichkeit sie zu verkörpern haben.
Im Ganzen wie im Einzelnen entscheidend wirkte dabei selbstverständlich der
großartige Nmgcstaltnngsproceß der Stadtcrweiterung, Allein schon bevor das kaiserliche
Handschreiben vom 20. December 1857 das Signal zu derselben gab, waren die Kräfte
vorbereitet, welche das Werk vollführen sollten. Ein Symptom der Gährung in den
Gemüthern bildete das Auftreten des jungen Schweizer Architekten Johann Georg Mül ler,
des geistigen Schöpfers der Lerchenfeldcr Kirche. Der Bau war in einein nüchternen
Zopfstil nach den Plänen des damals allmächtigen Hofbaurathes Sprenger bereits
begonnen, als Müller mit begeistertem Worte auf die erhabenen Dome des Mittclalters
als auf die einzig würdigen Vorbilder für die moderne Kirchenbaukunst hinwies. Die
dadurch angeregte Discussion führte zu Cunfeauenzen, welche über die zunächst vorliegende
Aufgabe weit hmaus reichten: an Stelle der bureaukratischen Bevormundung trat das
freie Concurrcnzwefen, und in allen Kreifen regte sich das Bewußtsein, daß die Architektur
an der Spitze ihrer Schwesterkünste zur Erhebung des Volksgefuhls, znr ästhetischen wie
zur sittlichen Bildung der Menschheit berufen fei, und daß demnach das gesammte Bauwesen
wie jeder einzelne Bau als eine ernste Sache des allgemeinen Interesses nur von deu dazu
Berufenen, von wahren Künstlern geleitet werden dürfe. Dem Siege diefer Ideen verdanken
wir die architektonifche Wiedergeburt unferer Stadt; sie wurde so zu eiuem schöuheiterfüllten
Gefammtknnstwcrt, welches uon den Thürmen nnd Kuppeln der Monumentalbauten herab
bis zu den Fliesen und Teppichen, welche die Fußböden unserer Wohnräume bedecken,
von dem Walten der frei gewordenen künstlerischen Volkskraft Zeugniß gibt.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277