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sich an dem Gräberschmuck; er liest abermals und abermals die ihm ohnehin bekannten
Inschriften, versucht neuerdings die unlesbaren zn entziffern, copirt die Verse, hat dabei
seine üblichen Privatgedanken und macht hierzu seine persönlichsten Glossen, notirt sich
anch die verfallenden Denkmäler und erinnert auf (anonymen) Karten die „vermuthlich"
vermöglichen Verwandten des Verstorbenen an ihre Pietätsschuld nnd spielt so gleichsam
das „Friedhofsgewissen" und besorgt freiwillig die „Friedhofs-Observanz", was wohl
auch ein Vergnügen sein mag; während ei« Anderer am jeglichen Nachmittage bei den
Kirchenthüren der notabelsten Bezirke sich einfindct, um die Gäste der Leichenbegängnisse
und Hochzeits-Feierlichkeiten kritisch zu mustern und die Anzahl der beigestellten Mieth-
wagen mit ähnlichen Fällen uud bei gleich begüterten Familien zn vergleichen. Stabile
Beschäftiguugeu, respektive „Unterhaltuugen" bescheidener Leute, Muster der Genüg-
samkeit und „Vergnügiings-Ötonomie", wovon später noch einige Abarten vorgeführt
werden sollen.
Besonders orgauisirte Naturen, perfecte „Aufpasser" sind wieder nur beim Wasser
zu treffen; der Eine treibt „Fischerei" ^ wenn das Wort keine Anomalie, — bethätigt
aber wenigstens durch sein stundenlauges, meist erfolgloses Ausharren den oft angefeindeten
Lehrsatz, daß der Mensch — unter Umständen — doch das geduldigste Geschöpf der Erde ist,
und wird hierbei durch seiuen Nachbar unterstützt, welcher in diesem Fache zweifellos noch
Größeres leistet, indem derselbe keine active, sondern eine contemplatiue Rolle übernommen
hat und sich damit bescheidet, dem „Pechfischer" bei seineu unglücklichen Hantierungen
und vergeblichen Fangversnchen mit der gleichen Ausdauer — zuzuschauen. Zu diesen
friedlichen Zeittodtschlägern gesellen sich in gehöriger Entfernung jene ernsten, gleichfalls
schweigenden Gruppe« vou officiellen Pintscher- und Pudelscheercrn uud überhaupt
geprüften „Huudewäschern", robuste Gestalten, von der Wichtigkeit und akademifchen Reife
ihrer Thätigkeit tief überzeugt, welche nicht minder ihr Stammpnblicum uon aufmerksamen
Beobachtern haben, die, wenn die „Saison" vorüber, mit demselben Gedulds-Phlcgma den
Schnee-Ablaouugen und Eisuerführungen oder wieder ein andermal bei vorzunehmenden
Uferverfichernngen dem melodischen Piloteufchlagen, der Ansbarkirung uon Schindeln,
Kehlheimerplatten, Granitwürfeln oder Salzstöcken nnd an Markttagen der Landnng uon
Obstschiffen ic. ihre uugetheilte Achtsamkeit widmen. Alle diese Leutchen vermag nur das
Wasser anzulocken und aus ihrer Behausung zu treiben.
Andere kauern dafür tage- uud nächtelang in Gebüsch und Auen. Sie cultivircn
keinen erlaubten Sport, aber das Verbot ist eben das sieghafte Reizmittel. Ein bischen
Wildern mit Netzen uud „Maxen" und Schlageisen, ei» heimlicher Vogelfang — und
sie hungern uud dursten uud ertragen die ärgste» Wetterunbilden uud riskiren nicht nur
vielstündige Märsche, sonderu auch Schlimmeres, falls sie ertappt werden. Aber weder
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277