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Bürger an. Iu Raimunds Phantasie hat sich diese bedeutsame llmwaudlung vollzogen.
Es war eine Blütezeit des Volksstückes und der volkstümlichen dramatischen Darstellung,
als Naimund in seinen eigenen Schöpfungen auftrat, ein grübelnder, gemüthvoller und
witziger Mensch, und neben ihm Therese Krones spielte, jene Zauberin der Vorstadtbühne,
die, ähnlich wie Fanny EIßler auf anderem Gebiete, eine Repräsentantin der Wiener
Annmth war.
Johann Nestroy schloß sich an Raimund an, doch war er schon im „Lumpazi-
vagabundus" mit seinem derben Realismus und scharfen Humor ein ganz anderer als sein
Vorgänger. Es war ein rücksichtsloser Spott- und Zersetzungsgeist in diesem Manne, der
sich stark genug iu dem Schriftsteller, aber noch stärker iu dem Darsteller aussprach.
Johann Nestroy und Wenzel Scholz schienen sich in die Erbschaft des Hanswurst getheilt
zu haben: alle Schärft und Beweglichkeit fiel Neftroy zu. alles Breite und Behagliche
kam auf Tcholz, Nestroy muhte sich feinen Erfolg stets erringen, Scholz, der unverbrüchlich
das Werthereoslüm trug (blauen Frack und gelbe Beinkleider), hatte schon gewonnen,
wenn er nur erschien. Der lange magere Nestroy und der kurze dicke Scholz waren ein
unvergleichliches Komitervaar. Scholz war ein Vertreter der zuständlichen, der duldenden,
Nestroy ein Repräsentant der thätigen und angreifenden Komik, Gegen Scholz, den
göttlichen Philister, stand Sansquartier-Nestroy, der Alles, das wirkliche Leben und das
ideale Leben der Dichtung unbarmherzig zerfaserte, Seiue Stücke holte sich Nestroy aus
Paris, Er nahm das französische Gerüst herüber und behängte es, indem er die Fabel
localisirte. mit seinen Späßen und Wiheu, Wie der griechische Comödiendichter in der
Parabase, trat er zeitweise aus dem Zusammenhang des Stückes persönlich hervor, um
mit einer schwindelnden Redefertigkeit, die an die alten Improvisatoren erinnern konnte,
sich an das Publicum zu wenden, das er schließlich mit einer Reihe durch einen schlagenden
Refrain zusammengehaltener Couplets bewirthete. Mit ungewöhnlichem Talent pflegte
Nestroy die alte Wiener Gattuug der Parodie, die Alles iu ihreu Bereich zog, was auf den
ernsten Bühnen Wiens Aufsehen erregte. Meisterhaft parodirle er beispielsweise Hebuels
„Judith". In dieser Parodie steht Nestroy zwar nicht der Kunst und dem Schönheitssinn,
aber dem sicheren Treff nach auf gleicher Höhe mit den genialsten Comödiendichtern.
Aristophanes hat den Euripides nicht bitterer gezüchtigt, Moliere die Precieusen uicht schärfer
durchgehechelt, als Nestroy der Hebbelschcn Gestalt des Holofernes zugesetzt. Er hat diesen
Kraft-Hanswurst, diese mit philofophifcher Kleie gefüllte Lederpuppe ins Herz getroffen.
Fast jedes Wort, welches Nestroys Holofernes spricht, ist vernichtend fnr den Holofernes
Hebbels: „Ich bin der Glanzpunkt der Natur", ruft Holofernes bei Nestroy aus, „noch
hab' ich keine Schlacht verloren, ich bin die Jungfrau unter den Feldherren. Ich möchte
mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer stärker ist: ich oder
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277