Seite - 206 - in Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
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Turch das ganze Mittelalter erringt die gesammte Kunst Österreichs — ich meine
hier das deutsche sogenannte Innerösterreich — und somit auch diejenige Wiens noch
kein selbständigeres Gepräge, In diese östlichen Grenzgebiete flutete damals nur die
äußerste Brandung der deutschen Culturbewegung, spielte an einzelnen verstreuten Punkten
im Süden auch zuweilen ein Wellenschlag der italienisch-mittelalterlichen Kunst herein;
in der Kirchenbaukunst war durch besondere Umstände hier und da selbst Frankreichs
Einfluß mächtig, ein local Eigenthümliches kam aber noch nicht Zum Wachsthum. So
tragen denn auch unsere größten mittelalterlichen Schöpfungen diesen Charakter, der der
Charakter des ganzen Landes und seines Volksthnmes in jenen Zeiten ist, wo von
Barbaren verheerte Gegenden erst allmälig durch deutsche Ansiedler aus Baiern, Franken
und anderen Gauen mltivirt worden waren, wo der wachsende Verkehr später Niederländer
und Wälsche herbeiführte, wo ein slavisches und magyarisches Nachbarthuin das Mosaik
noch bunter machte und fortdauernde Kämpfe uoch durch Jahrhunderte jene Ruhe raubten,
unter deren Segnungen allein alle diese bunten Elemente in einen Tou verschmolzen
werden konuteu. So stehen die italienischen Einflüsse im Gurker Dom, die französischen
in den Kirchenbauten Böhmens, der deutsche Hallenbau von St. Stefan nebeneinander
in Einem Lande.
Tie Tafelmalerei läßt sich durch das XV. und XVI. Jahrhundert als Nachfolgerin
der Schulen von Köln, der niederländischen, fränkischen und baierischen bis auf die
Elemente der Dürer'schen uud Holbein'schen Richtung uachweisen, aber bei allen diesen
mannigfachen Wandlungen fällt es selbst vom rein kunstwissenschaftlichen Standpunkte
ungemein schwer, an den Producten nach Sti l, Auffassung und Technik bezeichnende
Symptome localer Natur zu finden, geschweige denn, daß etwa ein im allgemeinsten
Sinne österreichisch und wienerisch zu nennendes Hauptmoment charakteristisch aus ihnen
entgegenlenchten würde.
An Ansätzen zur Bildung desselben, welche aber der Sturm jener rauhen Zeiten
größtentheils wieder verwischte, fehlte es übrigens anch im Mittelalter keineswegs. Sie
gingen weniger von dem im Allgemeinen am meisten lunstfördcrnden Factor, von der
Geistlichkeit aus; denn der einheitliche, in der gesammten damaligen Welt von denselben
kirchlichen Idealen und Normen beherrschte Geist ihres Kunstschaffens begünstigte eine
Entwicklung im Siuue des Stammeseigenthümlichen nicht. Das städtifche Bürgerthum,
in Deutschland wie in den Niederlanden und in Italien der mächtigste Hebel für die
Individualisirung der Kunst, kam in Österreich gerade nicht zu freier Blüte; dem Adel
versagte der endlose Krieg uud stete Besitzwechscl hierzulande im früheren Mittelalter
die Möglichkeit, die edle, aber zarte Pflanze zu warten; so ist es denn seit den ältesten
Zeiten das dynastische Element gewesen, das in Österreich die Künste nicht nur auf das
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277