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die Geschlechter sich in ziemlich homogene Gruppen
scheiden.
Mit steigender Kultur, unter günstigen Lebens-
bedingungen und in freieren sozialen Zuständen be-
ginnt der Einzelne sich nach Eigenart zu entfalten—
vielleicht, weil der Zwang der Sozietät in gesicherten
Verhältnissen nachläßt, und der Druck, den sie auf
ihre Mitglieder ausübt, nicht mehr eine Notwendigkeit
der Selbsterhaltung bedeutet, also nicht mehr als
„heilig" betrachtet wird; vielleicht, weil die Anpassung
an die Bedingungen der sexuellen Auswahl, die den
primitiven Mann zum Raub oder Kauf des Weibes
nötigen und das Weib zum willenlosen Gegenstand
des Raubes oder Kaufes machen, sich mit den Be-
dingungen selbst ändert. Der Reichtum und die Ent-
wicklungsfreiheit äußerer Lebensformen geht parallel
mit dem Reichtum und der Entwicklung der inneren.
Die Natur selbst, nach der evolutionistischen Auf-
fassung ein ewiges Fortschreiten von primitiven und
einfachen Formen zu immer komplizierteren und voll-
endeteren, von der Einheitlichkeit zur Mannigfaltig-
keit, äußert sich innerhalb der menschlichen Gattung
als ein Fortschreiten vom Typischen zum Indivi-
duellen.
Eigenschaften, von denen jede für sich betrachtet
sowohl dem einen wie dem anderen Geschlechte an-
gehören kann, machen als Komplex in ihrer beson-
deren Kombination die Eigenart der Persönlichkeit
aus. Dieaußerordentliche Mannigfaltigkeit dieserKom-
binationen allein ist ein Einwand gegen das Bestreben,
die Persönlichkeit als eine bloße Spiegelung der Sexua-
lität zu deuten. Mann und Weib nach ihrem geistigen
Charakter einfach als Paraphrasen ihres Geschlechts-
apparates aufzufassen. Sollte es wirklich möglich sein,
die Bewußtseinsleistung eines so komplizierten Orga-
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299