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menschen zusammenheiraten, so ist vorauszusehen,
daß die Kinder aus dieser Ehe auch wieder Durch-
schnittsmenschen sein werden, trotz aller Erziehungs-
befleißigung. Sollte es aber der Zufall wollen, daß
der wundersame, unberechenbare Fremdling, das
Genie, darunter auftritt, so wird es für seine Erzeuger
das beste sein, sie lassen ihn seine eigenen Wege
gehen, ohne ihn durch ihre pädagogischen Künste zu
bedrängen.
Erziehung im aktiven Sinne ist der Ausdruck für
eine Art des Seins; man erzieht mit dem, was man
ist, nicht mit dem, was man weiß. Alle pädagogischen
Kenntnisse und Absichten machen aus einer un-
geeigneten Persönlichkeit keinen guten Erzieher.
Die Forderung, daß wir uns vorher selber erziehen
müssen, um erziehen zu können, hilft diesem Übel-
stande nicht ab. Denn sie setzt eine bestimmte Fähig-
keit voraus, die nicht jeder hat— eben die Fähigkeit,
sich selber zu erziehen. Und wenn es möglich ist, sich
selber zu erziehen, dann können die Eltern diese
Aufgabe um so eher den Kindern überlassen. Hat
ein Mensch, der sich selber zu erziehen vermochte,
nicht entschieden vor dem etwas voraus, der diese
Arbeit an sich durch andere verrichten ließ—
Am meisten werden der Erziehung, der guten wie
der schlechten, die Durchschnittsmenschen zugänglich
sein, und unter diesen besonders die schwachen und
unselbständigen Individuen, die den suggestiven Ein-
flüssen der herrschenden Normen leicht erliegen.
Der Nutzen der Erziehung, ihr Sinn und Zweck kann
also niemals die Heranbildung eines „neuen" Ge-
schlechtes, oder gar des „Übermenschen" sein, sondern
höchstens der Schutz und die Führung der minder
Widerstandsfähigen, der minder Selbständigen.
Aber auch diesen gegenüber ist die Parallele, in
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299