Seite - 83 - in Zur Kritik der Weiblichkeit
Bild der Seite - 83 -
Text der Seite - 83 -
am hartnäckigsten. Sonst müßte doch jede Frau, die
es ernst nimmt mit dem Schicksal ihrer Kinder, über
die Ohnmacht verzweifeln, mit der sie beispielsweise
ihren fünfzehn-sechzehnjährigen Söhnen gegenüber-
steht, sobald ihnen die Welt in der scheußlichen
Gestalt, welche die sexuellen Dinge unter der aus-
schließlichen Männerherrschaft angenommen haben,
entgegentritt. An diesem Beispiel mögen die Frauen,
die auf dem Nurmutter-Standpunkt verharren, ein-
sehen lernen, daß sie diesen Standpunkt noch lange
nicht zu verlassen brauchen, um die Verpflichtung
zu fühlen, an der sozialen Arbeit teilzunehmen.
Sieht man aber die Gleichgültigkeit und den Stumpf-
sinn, mit welchem Frauen, die ihr ganzes Leben der
Erziehung widmen, an den Zuständen vorübergehen,
in die ihre männlichen Kinder, kaum erwachsen, hin-
eingestoßen werden, dann fragt man sich wohl, ob
der ganze Erziehungschauvinismus nicht bloß dazu
dient, dem Frauenleben mehr Wert und Inhalt vor-
zuspiegeln als ihm auf der gegenwärtigen Stufe der
Zivilisation in Wahrheit zukommt.
Allerdings könnte es scheinen, als bewege man
sich in einem Zirkel, wenn man die Einflüsse der
Erziehung hintansetzt, um alles Gewicht auf die
sozialen Lebensumstände zu legen. Neue Einrich-
tungen können nur durch Menschen geschaffen werden,
denen die alten unerträglich sind, weil sie andere
Bedürfnisse und Gesinnungen haben. Ist es daher
nicht notwendig, daß ihnen von Kindesbeinen an
diese Bedürfnisse und Gesinnungen eingepflanzt wer-
den? Aber wer irgend etwas Neues einpflanzen soll,
muß selbst schon ein neuer Mensch sein. Und damit
steht man wieder am Ausgangspunkt: neue Menschen
werden geboren, nicht erzogen, sie sind ein Werk
der Natur, nicht ihrer Eltern.
0»
83
zurück zum
Buch Zur Kritik der Weiblichkeit"
Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299