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Jede Zeit hat ihren besonderen Aberglauben. Die
Vorstellungen über die Macht und den Einfluß der
Erziehung sind recht eigentlich der Aberglauben einer
Zeit, deren Erkenntnis von dem Sinn der Welt in
dem Begriffe der Entv/icklung gipfelt. Ein ewiges
Werden ohne ein erfülltes Sein, eine Zukunft, die
sich beständig in eine nichtige Gegenwart verwandelt,
kann aber das menschliche Bedürfnis nach einem
Sinn und Zweck des Lebens nicht wirklich befrie-
digen. Wenn das Leben sich als ein unendlicher
Wechsel der Generationen abspielt, bei dem der Ein-
zelne nur Durchgangsglied ohne eigenen Inhalt ist,
wird auch die Aussicht auf eine unbegrenzte Ent-
wicklung gegenstandslos. Das Sein kann nicht weniger
bedeuten als das Werden. Für das männliche Leben
gilt dieser Grundsatz— sollte er für das weibliche
nicht zu Recht bestehen? Seine Persönlichkeit ganz in
die Mütterlichkeit, ganz in die Erziehung zu setzen,
wie man es auch jenen Frauen vorschreiben möchte,
die noch eines anderen Einsatzes fähig sind, heißt
das Gewisse dem Möglichen opfern, das Sein dem
Werden. Mit einer solchen Ausdehnung der mütter-
lichen Liebe aber bringt man — nach dem Worte
der Malwida von Meysenbug— „das Opfer seiner
selbst, das heißt das, welches man nicht bringen darf,
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299