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für jede öffentliche Handlung den Ministern, die
Minister dem Parlamente, die Parlamentsmitglieder
den Wählern verantwortlich sind, jede Selbständig-
keit aufgehört; was sich kundgibt ist— zum min-
desten angeblich— nie der eigene persönliche Wille,
das eigene persönliche Urteil, sondern immer ein
anderer Wille, eine übergeordnete Macht. Die Per-
sönlichkeit muß sich hinter dem nebulosen und
phrasenhaften Begriff eines „Willens der Gesamt-
heit" verstecken, um öffentlich wirksam zu werden.
Selbst die geistigen Schöpfungen, die der männliche
Geist aus sich hervorgebracht und als objektive Ge-
bilde in die Welt versetzt hat, sind vielfach Symptome
dafür, daß es mit dem Willen zum Herrentum und
zur freien Verantwortung bei ihm schlecht bestellt
ist. Welch ein Bedürfnis der Anlehnung, der Unter-
ordnung, der Unselbständigkeit spricht nicht aus dem
Glauben an einen transzendenten Gott, der als zor-
niger oder gnädiger Gebieter, als strenger oder barm-
herziger Vater die menschlichen Angelegenheiten
ordnet! Der Mann, der vermeintliche Herr der Welt,
hat sich diesem Gotte so in die Gewalt gegeben,
wie nach seiner Meinung das Weib sich in die Ge-
walt des Mannes gibt.
Und wenn es nicht der Gottesgedanke war, dem
er sich unterwarf, so schuf er sich irgend einen
anderen Begriff, den er als Herrn über sich setzte.
Denn auch die Philosophie, diese reinste Ausstrah-
lung der männlichen Intellektualität, hat das Herren-
tum und die freie Verantwortung der Männlichkeit
nicht immer auf das beste gewahrt. Durch den kate-
gorischen Imperativ, den Kant lehrte, wurde der ideelle
Mann unter die Zuchtrute einer dürren Abstraktion
gestellt, um endlich, kraft der unumschränkten Herr-
schaft der Kausalität, wie Schopenhauer sie verstand.
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Buch Zur Kritik der Weiblichkeit"
Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299