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Der Gedanke einer solchen vorzeitlichen oder my-
stischen Verbundenheit, der durch die neuplatonische
Philosophie tiefer ausgebildet worden ist, taucht in
der Phantasie großer Seelen immer wieder auf, wenn
sie lieben. Michelangelo spricht in seinen Sonetten von
dem Heimweh, das ihn durch die Augen der geliebten
Frau nach dem „Eden, wo wir einst Gespielen waren",
zieht; Goethe sagt in einem Gedicht an Frau von
Stein: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine
Schwester oder meine Frau"; und Schiller hat mit
der ganzen leidenschaftlichen Gewalt seiner Jugend-
periode diesen Gedanken in dem an Laura gerichteten
»Geheimnis der Reminiszenz" ausgedrückt: „Waren
wir im Strahl erlosch'ner Sonnen schon in Eins zer-
ronnen? Ja wirwaren's! ... in innig festverbundnem
Wesenwaren wir ein Gott ... Weine Laura! Dieser Gott
ist nimmer; du und ich des Gottes schöneTrümmer—."
Aber diese Abschweifung in das Gebiet der hohen
Liebe, wo das Geschlechtliche mit den edelsten Ten-
denzen der menschlichen Natur verschmilzt, gehört
nicht ganz hierher, wiewohl diese Illusionen sympto-
matisch für eine bestimmte Art des Geschlechts-
empfindens sind, die gemeinsame Quelle auch der
Vorstellungen, um welche es sich hier handelt.
Der Zustand der Vollendung als vorzeitliche Einheit
der Geschlechter ist nahe verwandt mit der Verwand-
lung von einem Geschlecht ins andere. Aus der
griechischen Welt sind es vor allem zwei überragende
Gestalten, die diese Verwandlung durchmachen. Der
Seher Tiresias, der Übermensch der Erkenntnis, der
an der Grenze zwischen dem Menschlichen und dem
Göttlichen steht, verwandelt sich aus einem Mann in
ein Weib und nach neun Monaten aus einem Weibe
wieder in einen Mann; und bei Herakles, dem Über-
menschen der Tat, der den ganzen Kreis menschlicher
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Titel
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Autor
- Rosa Mayreder
- Verlag
- Eugen Diederichs Verlag
- Ort
- Jena
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 10.5 x 16.5 cm
- Seiten
- 316
- Schlagwörter
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299