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76 A. Klärner und H. von der Lippe
Ansteckung in einem engeren Sinne (dann ohne das Adjektiv „sozial“) meint
zunächst die Übertragung durch physischen, direkten oder indirekten Kontakt
zwischen Trägern von Krankheitserregern (Viren, Bakterien etc.). Davon zu
unterscheiden ist soziale Ansteckung in einem weiteren Sinne.
Seit den 1980er-Jahren haben sich zahlreiche Studien zur Verbreitung von
übertragbaren Krankheiten, wie beispielsweise AIDS/HIV, Tuberkulose, Mala-
ria oder Ebola der Erkenntnisse und Methoden der Netzwerkforschung bedient
(vgl. z. B. Klovdahl 1985; Hagel et al. 2017; Read et al. 2008). Von besonderer
Bedeutung für die Verbreitung von Krankheiten – und damit auch für die Ein-
dämmung etwa durch Immunisierungs- und Aufklärungsprogramme – sind zen-
trale Positionen in einem Netzwerk, d. h. Personen(-gruppen) oder Institutionen,
die mit einer Vielzahl von Akteuren in Verbindung stehen, und überbrückende
Verbindungen (bridges) zwischen verschiedenen Teilpopulationen. Kinder im
schulpflichtigen Alter sind aufgrund der im Vergleich zu Erwachsenen höheren
Zahl von Kontakten durch Atemwegsinfektionen besonders gefährdet (Mossong
et al. 2008). Aus sozialepidemiologischer Perspektive ist aber hinzuzufügen, dass
mangelnde Hygiene und Infektionskrankheiten in den letzten 40 bis 50 Jahren
wahrscheinlich nur in einem geringen Umfang ursächlich für die (Re-)Produktion
gesundheitlicher Ungleichheiten waren (Bartley 2017, S. 108).
Unter sozialer Ansteckung wird der Prozess verstanden, in dem eine Person
eine Idee, ein Motiv oder ein Verhalten von einer anderen Person übernimmt (Burt
und Janicik 1996), meist wird als Voraussetzung für diese Übertragung die soziale
Ähnlichkeit zwischen den beiden Akteuren angenommen, die die Übernahme
wahrscheinlicher macht. Sozialepidemiologische Studien konnten zeigen, dass sich
Netzwerkpartner häufig ähnlich verhalten und ähnliche Gesundheitsgefährdungen
aufweisen (Essgewohnheiten, Übergewicht, körperliche Aktivität, Rauchen)
(Christakis und Fowler 2007; Fletcher et al. 2011; Macdonald-Wallis et al. 2012;
Tay et al. 2013; Valente 2015). Diese Befunde werden oft mit dem Mechanismus
der (sozialen) Ansteckung (contagion) erklärt, wobei nicht selten offen bleibt, wie
genau vor allem die sozialen Ansteckungsprozesse ablaufen oder wirken.
Der Prozess der sozialen Ansteckung ist dabei zunächst einmal abhängig von
den Strukturen bzw. den sozialen Netzwerken, in die die Akteure eingebettet sind.
Dabei erhöht die Kontakthäufigkeit und die Intensität der Kontakte zu anderen
Personen oder Gruppen die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung. Je komplexer
und unübersichtlicher die Struktur ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass
die soziale Ähnlichkeit wahrgenommen und Ansteckungsprozesse ausgelöst wer-
den. Eine Abgrenzung zum Mechanismus des sozialen Lernens oder auch dem
des sozialen Drucks ist nicht immer möglich und teilweise wird ein rein metapho-
rischer Gebrauch des Begriffs kritisiert (vgl. z. B. Lois 2013).
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Buch Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten - Eine neue Perspektive für die Forschung"
Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten
Eine neue Perspektive für die Forschung
- Titel
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten
- Untertitel
- Eine neue Perspektive für die Forschung
- Autoren
- Andreas Klärner
- Markus Gamper
- Sylvia Keim-Klärner
- Irene Moor
- Holger von der Lippe
- Herausgeber
- Nico Vonneilich
- Verlag
- Springer VS
- Ort
- Wiesbaden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-658-21659-7
- Abmessungen
- 14.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 436
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten – eine neue Perspektive für die Forschung 1
- Theoretische und methodische GrundlagenSoziale Beziehungen, soziales Kapital und sozialeNetzwerke – eine begriffliche Einordnung 33
- Netzwerktheorie(n) – Ein Überblick 49
- Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken 65
- Negative Beziehungsaspekte und gesundheitliche Ungleichheiten 87
- Netzwerkanalyse – eine methodische Annäherung 109
- Soziale Netzwerke, familiales Sozialkapital und kindliche Gesundheit 137
- Soziale Netzwerke, Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten im Jugendalter 163
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im jungen und mittleren Erwachsenenalter 193
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Alter 227
- Ungleichheitsdimensionen Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit 257
- Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheiten – Soziale Netzwerke im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsverhalten 273
- Arbeitslosigkeit, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten 309
- Soziale Netzwerke und die Gesundheit von Alleinerziehenden 329
- Soziale Netzwerke und Behinderung – Zugang und Stabilisierung der Einbindung in den allgemeinen Arbeitsmarkt 347
- Migration als gesundheitliche Ungleichheitsdimension? Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Gesundheit und soziale Netzwerke 369