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1Kapitel
An einem Zaun. Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter
den Büschen. Der Vogel schwieg. Es war Abend. Die Bauernmädchen kamen
singend über die Felder. Welche Einzelheiten! Ist es Kleinlichkeit, wenn
solche Einzelheiten sich an einen Menschen heften? Wie Kletten!? Das war
Tonka. Die Unendlichkeit fließt manchmal in Tropfen.
Auch das Pferd gehört dazu, der Rotschimmel, den er an eine Weide
gebunden hatte. Es war in seinem Militärjahr. Es ist nicht zufällig, daß es in
seinem Militärjahr war, denn niemals ist man so entblößt von sich und
eigenen Werken wie in dieser Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewalt alles
von den Knochen reißt. Man ist ungeschützter in dieser Zeit als sonst.
Aber war es überhaupt so gewesen? Nein, das hatte er sich erst später
zurechtgelegt. Das war schon das Märchen; er konnte es nicht mehr
unterscheiden. In Wahrheit hatte sie doch damals bei ihrer Tante gelebt, als er
sie kennen lernte. Und Kusine Julie kam manchmal zu Besuch. So war es. Er
wunderte sich ja darüber, daß man sich mit Kusine Julie an einen Tisch setzen
und ihr eine Tasse Kaffee zuschieben konnte, denn sie war doch eine
Schande. Es war bekannt, daß man Kusine Julie ansprechen und noch am
selben Abend auf sein Zimmer nehmen konnte: auch in die Wohnungen der
Kupplerinnen ließ sie sich rufen und hatte sonst keinen Erwerb. Aber
andrerseits war sie eben eine Verwandte, wenn man auch ihr Treiben nicht
billigte; und wenn sie auch leichtsinnig war, konnte man ihr doch nicht gut
den Platz am Tisch verweigern, zumal sie selten genug kam. Ein Mann hätte
ja vielleicht Lärm geschlagen, denn ein Mann liest die Zeitung oder gehört
einem Verein mit bestimmten Zielen an und hat immer die Brust voll mit
großen Worten, aber die Tante begnügte sich mit ein paar bissigen
Bemerkungen jedesmal, nachdem Julie wieder gegangen war, und solange
man mit ihr am Tisch saß, mußte man mit ihr lachen, denn sie war ein
witziges Mädchen und kannte bald mehr von der Stadt als eine. Immerhin,
wenn man auch mißbilligte, fehlte also die Kluft; man konnte hinüber.
Das gleiche bewiesen die Weiber aus der Strafanstalt; das waren auch meist
Prostituierte, und sogar die Anstalt mußte bald danach an einen andern Ort
verlegt werden, weil mitten in der Haft plötzlich viele schwanger wurden –
von den Neubauten her, wo sie Mörtel trugen, während männliche Häftlinge
als Maurer arbeiteten. Diese Weiber nun wurden auch zu Hausarbeiten
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik