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3Kapitel
Dann kam ein Ereignis, seine Großmutter starb vor der Zeit; Ereignisse sind
ja nichts anderes als Unzeiten und Unorte, man wird auf einen falschen Platz
gelegt oder vergessen und ist so ohnmächtig wie ein Ding, das niemand
aufhebt. Auch was sich viel später ereignete, geschieht tausendfach in der
Welt, und bloß daß es mit Tonka geschah, konnte man nicht verstehen.
Es erschien also der Arzt, die Leichengeschäftsleute kamen, der
Totenschein wurde geschrieben und Großmama begraben – eins reihte sich in
glatter Ordnung ans andere, wie es in einer guten Familie sein muß. Die
Verlassenschaft wurde geregelt; man durfte froh sein, sich daran nicht
beteiligen zu müssen; bloß ein einziger Punkt des Nachlasses erforderte
Aufmerksamkeit, die Versorgung des Fräuleins Tonka mit dem traumhaften
Nachnamen, der einer jener tschechischen Familiennamen war, die »Er sang«
oder »Er kam über die Wiese« heißen. Es bestand ein Dienstvertrag. Das
Fräulein sollte außer Lohn, der gering war, für jedes vollendete Dienstjahr mit
einem bestimmten Betrag im Nachlaß bedacht werden, und da man auf ein
längeres Leiden Großmamas gerechnet und, den erwarteten Unbilden der
Pflege gemäß, den Betrag in langsam wachsenden Stufen festgesetzt hatte,
kam es, daß er einem jungen Menschen empörend gering erscheinen mußte,
der die aufgeopferten Monate von Tonkas Jugend nach Minuten wog. Er war
zugegen, als Hyazinth mit ihr abrechnete. Er las scheinbar in einem Buch – es
waren noch immer die Tagebuchfragmente von Novalis in Wirklichkeit aber
folgte er mit Aufmerksamkeit dem Vorgang und schämte sich, als sein
»Onkel« die Summe nannte. Sogar dieser schien etwas Ähnliches zu fühlen,
denn er begann ausführlich die Bestimmungen des seinerzeit abgeschlossenen
Vertrags dem Fräulein auseinanderzusetzen. Fräulein Tonka hörte mit
festgeschlossenen Lippen aufmerksam zu; der Ernst, mit dem sie der
Rechnung folgte, gab ihrem jugendlichen Gesicht etwas sehr Rührendes.
»Also stimmt es?« sagte der Onkel und legte das Geld auf den Tisch.
Sie schien wohl überhaupt keine Ahnung zu haben, zog ihr kleines
Täschchen aus dem Kleide, faltete das Papiergeld zusammen und schob es
hinein; aber da sie die Noten vielmals biegen mußte, machten sie, so wenig
ihrer waren, ein dicken Pack und waren nicht unterzubringen; wie eine
Geschwulst saß die entstellte Börse unter dem Rock am Bein.
Jetzt hatte das Fräulein noch eine Frage: »Wann muß ich gehen?«
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik