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Kapitel
Tonka war ins Spital gekommen; die böse Wendung war eingetreten. Er durfte
sie besuchen; stundenweise. So hatte sich die Zeit verloren.
An dem Tage, wo sie aus dem Hause fortgekommen war, hatte er sich den
Bart abnehmen lassen. Nun war er wieder mehr er selbst.
Aber dann erfuhr er, daß sie am gleichen Tag – ungeduldig, kopflos, um es
los zu sein, was sie aus Sparsamkeit so lange aufgespart hatte, bis sie nun
Angst litt, es nicht mehr tun zu dürfen – rasch sich einen Backenzahn hatte
reißen lassen, als letzte Handlung der Freiheit, bevor sie ins Spital fuhr. Ihre
Wangen mußten nun traurig eingefallen sein, weil sie sich niemals helfen
lassen wollte. Da wurden wieder die Träume stärker.
Ein Traum kehrte in vielen Formen wieder. Ein blondes, unscheinbares
Mädchen mit blasser Haut erzählte ihm, daß seine neue, irgendeine erfundene
Geliebte ihm durchgegangen sei, und wieder von Neugierde erfaßt, warf er
hin: »Und glauben Sie, daß Tonka besser war?« Er schüttelte den Kopf und
machte ein recht zweifelndes Gesicht, um das Mädchen damit zu einer ebenso
kräftigen Beteuerung von Tonkas Tugenden zu reizen, er kostete schon den
Wohlgeschmack der Erleichterung, welche ihm ihre Entschiedenheitbringen
würde; aber statt dessen sah er langsam ein Lächeln auf dem Gesicht vor ihm
entstehen, sah es mit fürchterlicher Langsamkeit sich ausbreiten, und dann
sagte das Mädchen: »Ach, die hat ja so furchtbar gelogen. So war sie ganz
nett, aber man konnte ihr kein Wort glauben. Sie wollte immer eine große
Lebedame werden.« Die größere Qual dieses Traumes war nicht das wie ein
Messerschnitt ansetzende Lächeln, sondern daß er sich gegen die platte
Ereiferung des Endes nie wehren konnte, weil sie in der Ohnmacht des
Schlafes wie ihm aus der Seele gesprochen war.
Wenn er an Tonkas Bett saß, war er daher oft stumm. Er wäre gern so
großmütig gewesen wie in früheren seiner Träume. Er hätte sich vielleicht
auch aufschwingen können, wenn er etwas von der Kraft Tonka zugewandt
hätte, mit der er an seiner Erfindung arbeitete. Die Ärzte hatten ja nie eine
Krankheit an ihm finden können, und so umschlang die Möglichkeit eines
geheimnisvollen Zusammenhangs ihn mit Tonka: er brauchte ihr nur zu
glauben, so wurde er krank. Aber, vielleicht, sagte er sich, in einer andern Zeit
wäre das möglich gewesen – er gefiel sich schon in solchen rückblickenden
Gedanken –, in einer andern Zeit wäre Tonka vielleicht ein berühmtes
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik