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Kapitel
Es war merkwürdigerweise eine Zeit großer wissenschaftlicher Erfolge für
ihn. Er hatte seine Aufgabe in den Hauptzügen gelöst und bald mußten sich
auch die Folgen zeigen. Schon fanden Menschen zu ihm den Weg. Sie
brachten ihm Herzenssicherheit, wenn sie auch von Chemie sprachen. Sie
glaubten alle an die Wahrscheinlichkeit seines Erfolges; neunundneunzig
Prozent betrug sie schon! Und er betäubte sich mit Arbeit.
Aber während seine bürgerliche Person sich festigte und gleichsam in einen
Reifezustand der Weltlichkeit eintrat, liefen seine Gedanken, sobald er von
der Arbeit abließ, nicht mehr in festen Bahnen, sondern es brauchte in ihm
bloß Tonkas Dasein anzuklingen, und ein Leben von Figuren begann, die
einander ablösten, ohne ihren Sinn zu verraten, wie Unbekannte, die sich
täglich auf dem gleichen Wege begegnen. Da war der Kommis-Tenor, den er
einmal im Verdacht der Untreue gehabt hatte, und alle, an die sich je eine
Gewißheit knüpfte. Sie taten nicht viel, sie waren bloß da; oder wenn sie
selbst das Fürchterlichste taten, bedeutete es nicht viel; und weil sie
manchmal zwei oder noch mehr in einer Person waren, konnte man gar nicht
einfach eifersüchtig sein, sondern es wurden diese Geschehnisse so
durchsichtig wie klarste Luft und noch klarer bis zu einer jeder Selbstsucht
ledigen Freiheit und Leere, unter deren unbeweglichen Kuppel die Zufälle des
Weltlebens sich winzig abspielten. Und oft wurden das Träume oder vielleicht
waren es ursprünglich Träume gewesen, über deren blasse Schattenwelt er
unmittelbar aufstieg, wenn die Schwere der Arbeit sich löste, als sollte er
gewarnt sein, daß diese Arbeit nicht sein eigentliches Leben war.
Diese wirklichen Träume lagen auf einer tieferen Stufe als sein Wachen; sie
waren warm wie niedrige bunte Stuben. In ihnen wurde Tonka von der Tante
herzlos gescholten, weil sie bei Großmamas Begräbnis nicht geweint hatte,
oder es bekannte ein häßlicher Mensch, der Vater von Tonkas Kind zu sein,
und sie, fragend angeblickt, leugnete zum ersten Mal nicht, sondern stand mit
einem unendlichen Lächeln reglos da; das war in einem Zimmer mit grünen
Pflanzen geschehen, das rote Teppiche hatte und blaue Sterne an den Wänden,
und als er nach der Unendlichkeit aufsah, waren die Teppiche grün, die
Pflanzen hatten große rubinrote Blätter, die Wände schimmerten gelb wie die
sanfte Haut eines Menschen, und Tonka stand klarblau wie Mondlicht auf
ihrem Platz. Er flüchtete beinahe in diese Träume wie in ein einfaches Glück;
vielleicht waren sie nichts als Feigheit, sie sagten wohl nur, Tonka sollte
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik