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Der Anfang der Wandlung Israels 161
Bei der Kerenski-Offensive28 wurde ich verwundet, kam nach Kiew. Im Spital redete
man von Waffenstillstand, Sonderfrieden. Ein Kamerad besuchte mich, erzählte, ein
englischer Hauptmann sei in der Stadt, im geheimen Auftrag, ein Jude. Er verhandelte
angeblich mit den Juden über Fortsetzung des Krieges. Ob ich nicht hingehen wolle,
hören, was der Engländer vorschlägt.
Ich ging hin. Ein Zimmer in einem Bürgerhaus, ein Salon ! Zwanzig, dreißig Juden,
von jener Art, wie ich sie hasste. Rechtsanwälte und Kaufleute und Journalisten und
Ärzte
– alles Menschen, die so schrecklich gescheit sind, dass sie euch beweisen, bei Tag
müsse die Sonne nicht scheinen, weil es ohnedies hell ist.
Und vor ihnen stand ein einarmiger Mann, stand Trumpeldor und sprach von der
Schaffung einer jüdischen Armee, die Palästina erobern soll.
Im Arbeiterhemd war er. Nicht in seiner russischen Leutnantsuniform und nicht als
englischer Hauptmann. Ein einfacher Jude, wie es Tausende gibt. Und ganz einfach war,
was er erzählte. Ganz einfach.
Jedes Volk braucht seinen Staat, sagte er. Die ihn bisher nicht hatten, erobern ihn
jetzt im Weltkrieg. Und die Juden müssen ihren jüdischen Staat auch erobern. Wie die
Russen für Russland, wie Polen für Polen kämpfen, müssen die Juden in Russland und
Sibirien ein Heer bilden, gegen die Türkei ziehen, Palästina besetzen. Kerenski sei ein-
verstanden.
Es war alles ganz logisch. Aber die Juden, die ihm zuhörten, lachten beinahe vor
Wut. Bewiesen ihm, dass er Unrecht habe. Man müsse nicht und könne nicht und dürfe
nicht ; die Türken würden Pogrome in Palästina verüben, wenn Juden als Juden gegen
sie Krieg führen
– und der Präsident des zionistischen Zentralkomitees von Kiew stellte
den Antrag, eine Kommission zu wählen zwecks Abfassung einer Petition an die ame-
rikanische Regierung.
Trumpeldor hörte eine Zeitlang zu. Dann drehte er sich um, spuckte aus und ging
fort. Ich folgte ihm, holte ihn ein, sagte ein paar Worte. Trumpeldor starrte mir in die
Augen, stieß mit der Faust meine Hand weg, die ich ihm bot. ›Sind Sie Russe oder
Jude ?‹ fragte er. ›Wenn Sie Jude sind
– um was sind Sie besser als die Schwätzer da drin-
nen ? Glauben Sie, Russland wartet gerade auf Sie, Herr Leutnant ? Das jüdische Volk
aber wartet auf Sie.‹
Er ließ mich stehen.
Diese Nacht schlief ich nicht. Ich sah das riesige, endlose Russland vor mir und
fühlte mich überflüssig. Eine Ameise unter zahllosen Millionen, die ihren Bau hoch-
28 Kerenski-Offensive (Juni/Juli 1917) : erfolgloser Vorstoß der russischen Armee gegen die Mittel-
mächte an der galizischen Front (benannt nach dem damaligen Kriegs- und Marineminister Ale-
xander Kerenski, 1881–1970).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355