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Der Anfang der Wandlung Israels 205
Garnitur und lasen grundsätzlich nur die »Egyptian Times«87 und bestenfalls noch die
Wochenausgaben ihrer Heimatblätter.
»… netter junger Mann«, murmelte die Alte vor sich hin und nahm ihr Nähzeug auf.
Hanna hob ärgerlich den Kopf : »Lass mich, Mutter. Lass mich ! Ich will nicht, dass du
immer gleich daran denkst, ich müsse heiraten, wenn ich mit einem jungen Mann zu-
sammenkomme. Ich interessiere mich wirklich nicht für ihn.«
Die alte Frau schob das halbseidene, bunte Tuch zurück, das nach der Art frommer
Spaniolinnen ihre Frisur mit dem altersdünnen Zopf eng umschloss, so dass etwas mehr
von ihrem eisgrauen Haar sichtbar wurde, und kratzte mit der Stricknadel energisch am
Kopf : »Das sind Dummheiten, die du redest, Dummheiten !«, sagte sie streng. »Ich kann
nicht Englisch und ich kann auch nicht so schön Hebräisch wie du, aber ich weiß mehr
vom Leben als du mit all deinen Zeitungen und Büchern. Der Teufel soll die Roth-
schild-Schule holen, wo sie dich verrückt gemacht haben. Deine drei Schwestern haben
nicht Englisch gelernt und sind alle schon gut verheiratet, gut – ohne das böse Auge !
Kein Wunder, Töchter eines Raw
– welcher Sephardi fragt da nach Mitgift !«
Hanna nickte bitter, legte aber gehorsam die Zeitung zurück und sah ihre Mutter
an, die jetzt, wie sie wusste, nicht so bald aufhören würde. »Wir sephardischen Kinder
haben mehr Achtung vor unseren Eltern als die europäischen Einwanderer – wäre ich
eine russische Jüdin, würde ich jetzt aus dem Zimmer laufen«, dachte sie und bekämpfte
die aufsteigende Ungeduld.
»Du aber, die nicht nur die Tochter eines Raw bist, sondern die außerdem noch Geld
hat, ein schönes Monatseinkommen verdienst, du solltest dich nicht anständig verheira-
ten können !«, redete sich die Greisin immer mehr in Zorn und schlug den Strumpf, an
dem sie strickte, klatschend auf den Tisch. »Du nicht ? Die schönsten Kaufleute könn-
test du haben, Männer, die bei Lieferungen für die englische Garnison Hunderte und
Tausende verdienen, und du …«
»Ich werde schon heiraten, Mutter, sei unbesorgt«, sagte Hanna und streichelte deren
knochige Hand. »Aber ich bin noch jung und ich will warten – vielleicht findet sich
jemand, den ich lieben kann. Vielleicht.«
Die alte Frau riss ärgerlich ihre Hand weg : »Was sind das für Reden ! Was weißt du
von Liebe ! Lebe erst zwanzig Jahre lang mit einem Mann, gebäre ihm sieben Kinder,
wie ich es getan habe, und dann wirst du wissen, was Liebe ist. Ob ein Junger deinem
Auge gefällt, was geht das dich an, und was hat das mit Liebe zu tun ? Gott soll dich
davor schützen, dass du Liebe kennen lernst, ehe du verheiratet bist.« Sie wurde weich :
»Glaub mir mein Kind. Ich bin alt. Ganz alt und ungebildet. Zu meiner Zeit lernte
eine spaniolische Frau noch nicht Rechnen und Schreiben, und was in deinen Büchern
87 »Egyptian Times« : in Alexandrien erscheinendes englisches Boulevardblatt.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355