Seite - 227 - in Wolfgang von Weisl - Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
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Der Anfang der Wandlung Israels 227
Sie waren auf dem Gipfel des Hügels angelangt. Eldad suchte einen Felsblock, auf dem
sie beide gemächlich sitzen konnten. Er wählte einen regengeglätteten Klotz unter ei-
nem uralten, gespenstig verknorrten Ölbaum. Er zog seine Jacke aus, breitete sie über
den Stein, ließ sich neben ihr nieder, das Gesicht zum Berge Zion gewandt, der sich
ihnen gegenüber erhob. Der Junge schwieg, da er fühlte, dass in Hanna nicht Lust zum
Gespräch war. Dass sie in seiner Gesellschaft nur ein tiefes Alleinsein mit sich selbst
suchte. So blieb er still neben ihr.
Die alten Ölbäume warfen, vom Seewind gezaust, schwach zitternde violette Schat-
ten auf den graublauen Hang. Drüben, jenseits der Bahnhofstraße, hob sich hochheilig,
von Liebe durchtränkt, der Berg Zion über das Gebirgsland Judäas. Das Mondlicht
umspielte ihn trügerisch. Rückte seine Nähe in malerische Weite und täuschte seine
sanften Hänge zu ragender Größe und zu wilder Schroffheit. Weiß und gewaltig streb-
ten seine Mauern und Türme in die Höhe, als sei Jerusalem noch immer jene gewaltige
Feste, die lange Jahre römischen Imperatoren widerstanden hatte. Zur Linken der Da-
vidsturm, zur Rechten die in Stein gehauene, geballte Faust mit getürmtem Schwert
gegen Jerusalems Himmel gereckt, die Zionskirche mit ihrem Glockenturm113 – sie
fügten sich beide stark und schön in das unwirkliche Bild dieser Festung, die keine ist,
auf diesem Berge, der kein Berg ist, in dieser Herbstnacht, die heller war als mancher
Sommertag Europas. Immer höher wanderte der Mond, immer kühler wurde es. Noch
immer schwiegen die beiden, während sie stumm hinüberblickten zur fahlen Mauer der
Stadt, um die schon dünne Nebelstreifen zogen, sich hebend und senkend im ungewis-
sen Weben.
Sie waren eng aneinander gepresst, wie um Schutz gegen Kühle und gegen Einsam-
keit zu suchen. Als Eldad behutsam die Hand des Mädchens in die seine nahm, ließ
Hanna sie ihm. Hanna war so müde und zugleich so aufgetan der stummen Sprache von
Berg und Baum. Ganz Weib fühlte sie sich jetzt : eins mit der Erde, die sich dürstend
dem Herbstwind entgegenstreckte, den befruchtenden Regen erwartend.
Dichter wurden die Nebelschwaden, schon umhüllten sie die Mauerzinnen ganz,
schon strichen sie um den niederen Hügel, auf dem die beiden saßen. Hanna erschau-
erte, drängte sich mit kaum merkbarer Bewegung noch näher an die Schulter des
Freundes. Eldad empfing die Berührung ihres Körpers wie einen betäubenden Strahl.
Ihm war, als ginge ein mächtiger Strom von der Haut des Mädchens aus und flösse
von seiner rechten Schulter her heiß über seinen ganzen Leib. Die Härchen auf seinen
Armen, auf seiner Brust richteten sich auf. Ein Zittern lief durch seine Muskeln und
113 Zionskirche : im ersten Jahrzehnt des 20.
Jh.s an der Stelle der ursprünglichen byzantinischen Kir-
che Hagia Sion (5.
Jh.) erbaute Dormitio-Abtei.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355