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248 C. Wolfgang von Weisl
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L angsam rannen Wochen um Wochen dahin. Der Winter hatte mit voller Macht
eingesetzt. Schnee peitschte der Wind in die Straßen und Gässchen und Höfe
der Heiligen Stadt, türmte ihn zu Wällen vor den niederen Türmen der Maghrebi-
ner auf, die aus dem fernen Marokko vor einem halben Jahrhundert nach Jerusalem
gerufen worden waren, um die Zahl der Mohammedaner in der Heiligen Stadt zu
erhöhen.
Jetzt saßen sie in ihren Häusern ringsum die Klagemauer der Juden, ihre dünnen
Berberbärte schüttelten sie abergläubisch ; Schnee in Jerusalem ist ja nicht ganz selten,
das kommt alle paar Jahre vor ; aber solche Massen, dass die Bahn stecken bleibt, dass
die Häuser verschneit werden
– das ist ein böses Vorzeichen. Weissagt Unheil.
Und dann brach ein uralter Palmbaum zusammen, der seit undenklichen Zeiten
seine gefiederten Arme über die Bewohner der Königsstadt gereckt hatte, über Sün-
der und Heilige. Sagen umwoben ihn dichter als die Spinnweben, die staubüberkrustet
seinen zackigen Säulenstamm umspannen. Solange der Palmbaum steht, herrscht der
Halbmond über Jerusalem – wenn er einmal morsch wird, kommen die Juden zurück,
hatte die Ahne den kleinen Jungen erzählt, die an dem Baum vorbei mit kleinen, bunten
Baumwollkäppchen auf dem glattrasierten Schädeln zur Medreseh auf dem Tempel-
platz gingen, Schulbücher unter dem Arm.
Und gerade jetzt, unter Schneemassen erzitternd, hatte der alte Baum sich geneigt,
war über Nacht zermorscht, zerbrochen. Starr und staunend umringten ihn die Araber,
zerrieben das wurmstichige, kranke Holz zwischen den Fingern, nickten sich zu : »Min
Allah ! Ein Zeichen von Gott. Er warnt die Gläubigen vor der Gefahr, vor den Juden.«
Ein alter Händler schüttelte den Bart, sah pfiffig drein : »Der Stamm war schon längst
morsch, und die Herrschaft des Halbmonds in Jerusalem war schon lange vorbei. Wer
klug ist, versteht.«
Die anderen grinsten. Der alte Fuchs hatte zwei Häuser, und beide waren an Juden
vermietet, und von ihrem Ertrag baute er jetzt ein drittes. Er konnte ruhig sein. Aber
die Stadt war nicht ruhig. Der zusammengebrochene Baum erregte sie mehr als alle
Nachrichten über die europäischen Schiffe, die jetzt sogar zwei und sogar drei Mal in
der Woche trotz Wintersturm und Regengüssen auf der Reede von Jaffa ankerten, um
ein paar Dutzend oder ein paar Hundert junger Juden aus Danzig, Konstanza, Triest an
Land zu schicken.
Es kamen fast nur Ostjuden ; die Deutschen, Ungarn, Österreicher, Russen, Türken
durften damals als »Feindvölker« nicht in das britisch-beherrschte Palästina, und die
Juden Amerikas, Englands, Südafrikas, Hollands hatten es zu gut. Sie verdienten in
Fülle und Überfülle Geld
– sie schickten Spenden ins Heilige Land, aber keine Söhne.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355