Seite - 278 - in Wolfgang von Weisl - Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
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278 C. Wolfgang von Weisl
seinen Höhen. ER schaffe Frieden über uns und ganz Israel. Amen.« Sie seufzte, ließ
die Mauer los, tat drei kleine Schritte zurück, wischte die letzten sanften Tränen von
ihren Lidern. Fühlte Frieden in ihre Seele einziehen, Frieden der Ergebung. Sie hatte
ihre Klage dem Höchsten vorgebracht – ER würde alles zum Guten wenden. Was ER
tut, ist wohlgetan.
Sie sah sich auf dem kleinen Platz um, der widerlich eng zwischen armseligen Häu-
sern marokkanischer Stiftungen und der königlichen Mauer liegt.165 Sie streichelte mit
den Augen nochmals die teuren Steine, wollte gehen. Da sah sie scheu, ganz in die Ecke
gepresst, wo die Tempelmauer an den Hof eines arabischen Pilgerheimes anstößt, eine
Frau von wildem Schluchzen gepeitscht sich in Schmerz und Weh krümmen. Die Frau
–
es war eigentlich eine Dame, so viel verstand die Greisin doch von Toiletten. Sie weinte
nicht wie jemand, der ein Herz voll Sorge und Angst vor Gott ausgießt, sondern wie ein
Mensch, der sich anklagt, der sich peinigt, der Buße tut. Wer öfters wie Frau Asriel an
der Westmauer betet, kennt die Unterschiede des Weinens.
Teilnahmsvoll wartete Frau Asriel ein wenig. Sie wollte das Gesicht der Dame se-
hen. Es war sicher eine Fremde. Woher sie sein mochte … Minuten vergingen. Endlich
hörte das Schluchzen auf, behandschuhte Finger wühlten in einem Täschchen, zogen
ein Spitzentuch hervor, wischten über die Augen. Dann drehte die Fremde ein tränen-
nasses Gesichtchen der Greisin zu, mit großen, schwarzen, kindlich-fragenden Augen,
die ungewiss die Gegend musterten. Frau Asriel, etwas beschämt wegen ihrer Neu-
gier, machte einige Schritte dem Ausgang zu, aber die Fremde kam auf sie zu, wischte
sich im Gehen mit einer Quaste über Nase und Wangen und sprach dann Frau Asriel
auf Französisch an, und als diese sie nicht ansah, sagte die Fremde mit hellem Kinder-
stimmchen, schüchtern wie ein kleiner Vogel, der um Brotkrumen bettelt und Angst hat,
sich zu nahe zu wagen : »Ich bin schon das dritte Mal an der Mauer und finde jetzt am
Abend doch noch immer nicht den Weg durch die Gässchen heraus. Wollen sie mich
führen, meine Dame ?«
So machte Frau Asriel die Bekanntschaft von Mademoiselle Antabi aus Tanger166
in Marokko bei Paris. Fünf Minuten später wurde festgestellt, dass eine Tante von Frau
Asriel mit einem Schwager eines Onkels von Fräulein Antabi verheiratet war und dass
eine Urgroßmutter von Fräulein Antabi aus Marokko sich dort in Kairo mit einem
Rabbi Asriel verheiratet hatte, der einer Nebenlinie der Asriel von Jerusalem angehörte.
Und zehn Minuten später trippelte die kleine Antabi glückstrahlend neben der alten
Frau die Stiegenstufen der Davidstraße hinan, auf dem Weg nach Ohel Mosheh, um
165 Vgl. Anm. 67.
166 Die nordmarokkanische Stadt Tanger hatte um 1920 ca. 60.000 Einwohner, davon ca. 15.000 Ju-
den.
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355