KOMMUNALE FESTKULTUR IM MITTELALTER#
VOM ‚PALIO DI ASTI‘ ZUM WIENER SCHARLACHRENNEN#
Michael Mitterauer#
Als soziale Organisationsform wie auch für das soziale Zusammengehörigkeitsbewusstsein spielt die Gemeinde in der europäischen Geschichte eine enorme Rolle. Sicher zu Recht gilt der Kommunalismus als eine grundlegende Besonderheit in der Entwicklung dieses Kulturraums. Die bedingenden Faktoren dieses Spezifikums beschäftigen immer wieder die historische Forschung.Es mag überraschen, dass städtischer Kommunalismus in der europäischen Geschichte des Mittelalters mit einem kulturellen Phänomen in Zusammenhang steht, das man aus heutiger Sicht als eine Form des Sports einstuft, nämlich das Pferderennen. Die italienische Sprache nennt Veranstaltungen dieser Art „Palio“. Der „Palio“ begleitet in Italien die Geschichte der Stadtgemeinde von ihren früh- und hochmittelalterlichen Anfängen bis in die Gegenwart. Als Ausdrucksform städtischer Festkultur begegnet er unter anderen Bezeichnungen auch über den italienischen Kulturraum hinaus.
Eine Schlüsselstellung in der Geschichte städtischer Pferderennen nimmt im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit das in Wien veranstaltete „Scharlachrennen“ ein. Es ist einerseits das älteste solche Rennen nördlich der Alpen, andererseits das Vorbild für ähnliche kommunale Veranstaltungen im oberdeutschen Raum seit dem 16. Jahrhundert. In seiner Genese und seiner Ausstrahlung kann es als Indikator für allgemeine Kultureinflüsse gewertet werden, die – von Oberitalien ausgehend den nordalpinen Raum erfasst haben. In diesem Verständnis soll hier skizzenhaft der Entwicklung von Pferderennen in den großen Stadtkommunen des nördlichen Italien nachgegangen werden – bis hin zum ersten Auftreten in Mitteleuropa. Die wichtigsten Stationen bei dieser Spurensuche sind: die früh als Stadtrepublik entwickelte Stadt Asti in Piemont, weiters Verona am Ausgangspunkt eines wichtigen Alpenübergangs und schließlich die habsburgische Residenzstadt Wien. Weiterreichende Verästelungen der Entwicklung in Mitteleuropa müssen der Überschaubarkeit halber genauso ausgeklammert werden wie Prozesse der Ausdifferenzierung in Italien selbst. Letztere reichen bis in die Gegenwart. Als „reenactment“ großer kommunaler Ereignisse des Mittelalters haben Palio-Rennen in Italien gerade im 20. Jahrhundert einen beachtlichen Aufschwung erlebt.
Man hat in einigen italienischen Städten den Anspruch erhoben, den ältesten Palio zu veranstalten. Das gilt etwa für Ferrara. Wegen seiner festlichen Ausgestaltung und seiner internationalen Bekanntheit wird der Ursprung des Palio gelegentlich in Siena gesucht. Quellenmäßig ist das nicht zu halten. Die frühesten Nachweise finden sich in Asti in Piemont.
Man hat schon im 16. Jahrhundert die Meinung vertreten, der Palio habe antike Wurzeln. Bis in die neueste Literatur findet sich diese Vermutung. Mit den römischen Wagenrennen hat der Palio allerdings nichts zu tun. Auch in der auf römischen Grundlagen entstandenen Stadt Asti lässt sich diesbezüglich keine Kontinuität feststellen. Vielmehr ist er hier mit hoher Wahrscheinlichkeit aus langobardischen Wurzeln abzuleiten. Insofern ist es problematisch, den Palio als ein typisches Phänomen des Renaissancezeitalters im Sinne einer Wiederbelebung der Antike zu betrachten. Wenn man von langobardischen Entstehungsbedingungen des ältesten Palio ausgeht, so stellt sich die Frage: Warum ist er nicht in Mailand entstanden, sondern in der heute viel weniger bedeutsamen Stadt Asti? Gerade wenn man einen funktionalen Zusammenhang zwischen Palio und Kommune annimmt, läge es nahe, an Mailand zu denken. Die reiche Literatur über die Anfänge der italienischen Stadtkommune behandelt immer wieder primär Verhältnisse in dieser Stadt. Solchen als selbstverständlich angenommenen Prioritäten ist entgegenzuhalten: Mit der Ersterwähnung 1095 ist Asti die älteste Stadtgemeinde der Lombardei. Nur die bereits in den 1080er Jahren belegte Kommune Pisa in der Toskana ist älter. Die Geschichte des Palio von Asti als dem ältesten Pferderennen dieser Art führt uns zur vielfach unterschätzten Bedeutung dieser Stadt im Früh- und Hochmittelalter und den sie bedingenden Faktoren.
Die ältesten Erwähnungen des „Palio di Asti“ bzw. des „Palio Astese“ reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die Bezeichnung als „pallium“ für diesen Typus von Pferderennen, die sich in Oberitalien allgemein durchgesetzt hat, ist vom lateinischen Wort für Tuch abgeleitet. Ein besonders wertvolles Tuch stellte jeweils den Siegespreis für den Gewinner der Konkurrenz dar. Diese Terminologie verweist auf den Zusammenhang der Veranstaltung mit einer wirtschaftlichen Funktion. Asti war durch den Tuchhandel reich geworden. Auf den berühmten Fernhandelsmessen des Frühmittelalters in der Champagne spielten die Händler aus Asti eine bedeutende Rolle. Der Tuchhandel über die westlichen Alpenpässe nach Nordwesteuropa stellte die Basis für den außerordentlichen Reichtum von Asti und anderer früher Kommunen aus dem Piemont bzw. der Lombardei dar.
Die erste Nennung des „Palio di Asti“ stammt von 1275. Guglielmo Ventura, der offizielle Chronist der Stadt berichtet, dass die Astigianer damals „sicut fiere solet in Ast(i) in festo Beati Secundi“ ihren Palio nahe der Nachbarstadt Alba geritten hätten und dabei die Weingärten der Leute von Alba verwüstet hätten. Diese frühe Erwähnung zeigt höchst aggressive Seiten eines solchen Pferderennens. Die Bewohner von Asti verbanden ihren Ritt in diesem Jahr mit einer Aktion des ökonomischen Vandalismus. Weingärten spielten für die Wirtschaftskraft der beiden Städte eine wichtige Rolle. Bis heute werden hier besonders wertvolle Weine kultiviert. Wein war schon damals in dieser Region ein wichtiges Fernhandelsgut. Der Konkurrentin Alba wurde so 1275 großer Schaden zugefügt. Die Feindschaft der beiden Nachbarstädte kam auch weiterhin in der Geschichte der Rennen zum Ausdruck. Während in Asti Pferderennen veranstaltet wurden, führte man in Alba Eselsrennen durch – angeblich aus dem Motiv, die Veranstaltung der Astigianer zu verhöhnen. 1275 waren die Pferderennen von Asti schon altes Herkommen. Der Chronist der Stadt bringt sie mit der Feier des Festes des heiligen Secundus in Verbindung. Secundus war einer der ersten Bischöfe der Stadt. Er wurde seit alters als deren Patron verehrt. Die Feiern zu Ehren des Stadtpatrons waren offenbar schon im 13. Jahrhundert der entscheidende Ansatzpunkt für das Pferderennen als Höhepunkt eines Stadtfestes. Der Konnex mit dem Jahrestag des Stadtpatrons erscheint dann in der Geschichte des Palio in Oberitalien immer wieder als ein häufig auftretendes Motiv. Es ist gleichsam ein Leitmotiv dieser kommunalen Festkultur. Bis heute wird der Palio in Asti in der Zeit um das Fest des heiligen Secundus Ende März abgehalten. Secundus begegnet in späteren Darstellungen immer wieder als Reiterheiliger. So auch bis heute am Banner des Palio.
Wenige Jahre nach der Erstnennung des Palio erwähnt ein anderer Chronist der Stadt, nämlich Ogerio Alfieri, dass Asti damals am Höhepunkt der Entwicklung seines Reichtums stand. Er spricht vom Bau neuer Stadtmauern, vom Bau vieler neuer Gebäude, vor allem von neuen Palästen und Geschlechtertürmen, wie sie für Asti besonders charakteristisch waren (vgl. Michael Mitterauer, Geschlechtertürme, in Austria Forum). Und er nennt die Zahl der Pferde, die notfalls hier aufgeboten werden können. Man zählt in der Stadt über 600 Adelige und reiche Leute, die jeweils zwei Pferde stellen konnten. Im „contado“, also im Umland der Stadt kamen weitere 160 „ cavalieri“ hinzu, die einen „cavallo“ bzw. eine „cavalla“ besaßen. Die terminologische Differenzierung ist bezeichnend. In der unmittelbaren Umgebung gab es offenbar ausreichend Gestüte, die eine Rekrutierung der Reiterei aus dem eigenen Territorium ermöglichten. Auch beim mittelalterlichen Palio wird man hauptsächlich mit Reitern aus Asti selbst oder aus dem Astigiano zu rechnen haben. Gute Pferde für den Palio hatte man hier zur Genüge im engeren Umland zur Verfügung. Man brauchte sie nicht von auswärts zu importieren wie späterhin etwa beim Palio von Florenz und anderwärts. Der Palio von Asti entstand offenbar auf der Grundlage einer traditionellen Pferdezucht in dieser Gegend. Sie reicht wohl bis weit vor die Erstnennungen im 13. Jahrhundert zurück.
Die Reiter des Palio wurden seit alters als „fanti“ oder „paggi“ bezeichnet. Es handelte sich also um junge Burschen. Später galt als obere Altersgrenze für die Teilnehmer das erreichte 21. Lebensjahr. Nicht die Pferdebesitzer gingen in den Rennen in Konkurrenz, sondern ihre Söhne oder Dienstleute. Sich in der Reitkunst auszuzeichnen, war nicht nur eine sportliche Leistung im heutigen Verständnis des Wortes. Der Palio diente in einem weiteren Verständnis dazu, die Streitmacht der Stadt zu trainieren und sie auf kriegerische Notfälle und Aktivitäten vorzubereiten. Das Moment der Leistungssteigerung durch Konkurrenz der jungen Reiter ist in solchen größeren Zusammenhängen zu sehen.
Durch ihre zahlenmäßig starke und gut ausgebildete Reiterei war Asti im Kriegsfall ein nicht zu unterschätzender Gegner. Schon im Verlauf des 12. Jahrhunderts wurde die militärische Stärke der oberitalienischen Kommunen auf die Probe gestellt. 1155 zerstörte Friedrich Barbarossa Lodi und Como. Auch Asti war bedroht. 1159 kam es zu einem Vergleich zwischen dem Kaiser und der mächtigen Stadtrepublik. Der Kaiser unterstellte die Stadt seiner unmittelbaren Jurisdiktion und verhinderte so deren Allianz mit den lombardischen Kommunen. Die mächtigste Stadt des Piemont war so aus der gegnerischen Front herausgebrochen. Asti musste sich allerdings zu einer jährlichen Zahlung von 200 Mark Silber verpflichten. Militärische und finanzielle Stärke ersparten also Asti damals das Schicksal Mailands und anderer oberitalienischer Kommunen. Das Verhandlungsergebnis rettete Asti vor der Zerstörung.
Die Finanzmacht von Asti stützte sich vor allem auf den ertragreichen Handel mit wertvollen Tuchen aus den nordwesteuropäischen Partnerregionen - zunehmend aber auch auf Geldwechsel und Pfandleihe, die von den Astigianern jenseits der Alpen in großem Umfang betrieben wurden. Durch ihre verkehrsgünstige Lage konnte die Stadt wichtige Alpenübergänge unter ihre Kontrolle bringen. 1141 erhielt sie durch König Konrad III. zudem das Münzrecht. Auf den internationalen Messen der Champagne wurden neue Methoden von Finanzgeschäfte entwickelt. Unter den „Lombarden“ waren hier die Astigianer führend. Vertreter und Angehörige der großen Kaufleutefamilien, die mit dem alten Reiteradel zu einer relativ homogenen Führungsschicht verschmolz, ließen sich in den großen Handelszentren nordalpiner Regionen nieder. In Asti entstanden international tätige Bankhäuser – deutlich früher als in Lucca, Siena oder Florenz. Alle diese frühen Bankplätze entstanden an der „Via Francigena“, dem im Frühmittelalter neu geschaffenen transalpinen Verkehrsweg zwischen Franken- und Langobardenreich. Asti nahm an diesem Verkehrsweg als südalpiner Knotenpunkt eine Schlüsselposition ein. Die Bedeutungszunahme dieses Verkehrswegs gab nicht nur dem Handel, sondern auch der Viehzucht Impulse. Pferde und Esel wurden hier gebraucht. Die besondere Ausdauer und Trittfestigkeit der Maultiere war im Verkehr über die großen Alpenübergänge besonders gefragt.
Der Palio von Asti schließt deutlich an die große Ausbauphase der Stadt im 12. und 13. Jahrhundert an. Das zeigt sich nicht zuletzt in der traditionellen Routenführung des Rennens. Für sie ist nicht primär die Domkirche Santa Maria Assunta entscheidend, sondern die Stiftskirche San Secondo. Die Domkirche markiert zwar den Ausgangspunkt der Stadtentwicklung in der Antike. Sie bleibt Zentrum des bischöflichen Asti. Die mittelalterliche Emanzipation der Stadtgemeinde erfolgte jedoch gerade in der Auseinandersetzung mit dem Bischof. Sie korrespondiert mit dem Ausbau der Stiftskirche San Secondo.
1095 treten die beiden Pole der Stadt deutlich in Erscheinung. In diesem Jahr wird einerseits die neuerrichtete Domkirche von Papst Urban II. bei seiner Rückkehr von der Synode von Clermont geweiht, auf der er erstmals zum Kreuzzug aufgerufen hatte. In diesem Jahr wird aber auch andererseits die Bischofsburg Castello di Annone an die Konsuln als den neuen Herren der Stadtrepublik übergeben. Die „Collegiata San Secondo“ wird nun zum geistlichen Mittelpunkt der Kommune. Sie beherbergt nicht nur die Reliquien des Stadtpatrons. Sie wird auch zum Zielpunkt des Palio. In ihr werden die Tücher aufbewahrt, die – analog zum Siegespreis für den Gewinner des Rennens – dem Stadtheiligen gespendet werden. In San Secondo gibt es auch eine eigene Kapelle für den „Caroccio“, der beim Palio stets mitgeführt wird. Der „Carroccio“ ist in den frühen Stadtkommunen Oberitaliens ein wesentlicher Symbolträger. Wenn er auch als Kriegswagen keine militärische Bedeutung mehr hat – in den Schlachten um die Freiheit der Kommunen wird er mitgeführt und bis zum Äußersten verteidigt. Die Aufbewahrung in einer Kapelle der Kommunekirche San Secondo ist in Asti Ausdruck seiner sakralen Bedeutung für die Identität der Stadtgemeinde.
Der „Carroccio“ ist ein Identifikationssymbol norditalienischer Städte, das auf langobardischen Ursprung zurückgeht. Er begegnet vor allem in der westlichen Lombardei. Dass er bis in die Gegenwart als Palladium der Stadt in der Kirche des Stadtpatrons aufbewahrt wird, ist eine Ausnahmeerscheinung. Es handelt sich beim „Carroccio“ um einen Kriegswagen aus langobardischer Frühzeit – allerdings nicht um einen Pferdewagen, wie sie bei der Landnahme der einwandernden Gruppen in Italien im 6. Jahrhundert benützt wurden, sondern um ein von Ochsen gezogenes Gefährt. Innerhalb der Stammestruppen war ihm eine Gruppe von Elitekriegern zugeordnet, die man als „Arimannia“ bezeichnete. Sie war unmittelbar dem König unterstellt.
Auf seinem langen Zug von Skandinavien über Pannonien nach Italien war der nordgermanische Stammesverband der Langobarden zu einem ausgeprägten Reitervolk geworden. Man nimmt an, dass dieser soziale Strukturwandel unter dem Einfluss östlicher Steppenvölker erfolgte – etwa der Gepiden, die mit den Langobarden in Pannonien in Kontakt waren. In Italien treten die Langobarden jedenfalls von Anfang an als Reiterkrieger in Erscheinung. Ihre besondere Bewertung von Pferden kommt in ihren Grabbeigaben zum Ausdruck. Solange sie noch nicht christianisiert waren, gaben sie führenden Stammesmitgliedern geopferte Pferde ins Grab mit. Im Westen des Langobardenreiches sind solche pagane Bestattungen mit Pferden gerade in der Region zwischen Mailand und Asti relativ häufig. Das Edikt König Rotharis von 643, das altes langobardisches Recht aufzeichnete, stellte in fünf speziellen Abschnitten Pferde unter besonderen Schutz. Schwert, Streitaxt und Pferd galten als besondere Zeichen der langobardischen Arimannen.
Asti übernahm unter der langen langobardischen Herrschaft innerhalb des Reiches zentrale Funktionen. Die Stadt wurde zum Sitz eines Dukats, also eines Herzogtums. Zeitweise residierten hier auch langobardische Könige wie Aripert I. (653 – 661) und sein Sohn Godipert (661-662). Asti wurde zu einem Zentrum des langobardischen Westens, den man als „Neustria“ bezeichnete, wie Cividale in Friaul als Hauptort des Ostens, der korrespondierend „Austria“ oder „Austrasia“ genannt wurde. Jedenfalls entwickelte sich Asti unter den langobardischen Herrschern zu einem wichtigen Platz des Reiches. Und dieses Reich war in seiner Struktur von Reiterkriegern beherrscht. Pferdezucht und Ausbildung der Krieger zu leistungsfähigen Reitern wurden sicher in dieser Stadt schon in der Frühzeit der langobardischen Landnahme betrieben. Insofern lässt sich beim Palio von Asti in einem weiten Verständnis von langobardischen Wurzeln sprechen. Vielleicht reichen hier Pferderennen weiter zurück, als es die Erstnennungen in schriftlichen Quellen erkennen lassen.
Einen schweren Rückschlag in der Bedeutung von Asti brachten die Invasionen der Sarazenen im Piemont vom 8. bis zum 10. Jahrhundert. Von ihrem Zentrum in der Provence aus unternahmen diese islamischen Gruppen Razzien nicht nur nach Oberitalien, sondern auch durch das Rhonetal und über die Alpenpässe bis weit in die heutige Schweiz hinein. Die Verwüstungen, die sie hinterließen, waren tiefgreifend und nachhaltig. Asti war zwar nicht unmittelbar betroffen, aber ein Aufschwung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens entlang der alten Verkehrswege war in dieser Epoche unmöglich. Abwehrversuche solcher katastrophalen Razzien prägten die soziale Struktur der Region von Piemont nachhaltig. Sarazenentürme entstanden als Warnposten. Kleinadelige bekamen Privilegien, um wehrhafte Sitze zu errichten. Und eine einsatzfähige Reiterei war mehr denn je gefragt. Erst 973 konnten die Sarazenen aus ihrem wichtigsten Aktionszentrum in Fraxinetum (La Garde Freinet) nahe der heutigen Stadt Saint Tropez vertrieben werden.
Mit der Sicherung der Verkehrswege über die Alpenpässe begann nun die große Blütezeit von Asti. Die Führungsschicht der Stadt bestand einerseits aus im Umland begüterten Reiterkriegern, andererseits aus einer reichen Kaufmannschaft mit weitreichenden Handelskontakten. Dieses Patriziat errichtete nun in der Stadt Paläste sowie die charakteristischen Geschlechtertürme. Im 11. Jahrhundert konnte es zur Basis für die älteste Stadtrepublik Oberitaliens werden. In ihr entwickelte sich aus langobardischen Wurzeln der älteste Palio als das große Stadtfest der Kommune.
Die im Umland der Stadt begüterte Reiterei von Asti repräsentiert nur einen der unterschiedlichen Wege, auf denen es in dieser Region zur autonomen Gemeindebildung kam. Die Entwicklung verlief nicht einlinig, wie die Literatur diesen Prozess gelegentlich darstellt. Die Schiffseigner von Pisa stehen für einen anderen Weg, die erzbischöflichen Vasallen von Mailand für einen dritten. Das Fortleben spätrömischer Strukturen in Restgebieten des Byzantinischen Reichs in Italien und in Dalmatien ist in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen. Die in der mediävistischen Forschung so viel diskutierte Frage, durch welche Faktoren die Entstehung der hochmittelalterlichen Stadtkommune bedingt sei, lässt sich nicht monokausal beantworten. Das Modell Asti ist nur eines von mehreren, das am Beginn des europäischen Kommunalismus steht – allerdings eines, das bisher nur wenig Beachtung gefunden hat.
Der Palio als das große Stadtfest am Patronstag des Stadtheiligen ist seinerseits auch nur eine spezifische Facette in der Entwicklung dieser Festkultur. In Asti ist es durch eine Kontinuität über viele Jahrhunderte, die in der Gegenwart weiter gepflegt wird, zu besonders günstigen Beobachtungsverhältnissen gekommen. Von diesem Beispiel ausgehend könnte die Vielfalt von Formen der Ausdifferenzierung, der Entfaltung von Ritualen und der Entstehung von zusätzlichen Rennen dargestellt werden. Als der älteste Palio der europäischen Geschichte verdient er wohl ausführliche Behandlung, weil er wohl Vorbild für jüngere Formen solcher Konkurrenzen war. Wir finden sie – nach Süden ausstrahlend entlang der Via Francigena – etwa in Lucca oder besonders ausgeprägt in Siena – und ebenso nach Westen ausgreifend in der Po-Ebene in verschiedenen Kommunen der alten „Langobardia“ – vor allem in Verona, wo wir einer etwas anderen sehr alten Form eines solchen Rennens um den Preis eines wertvollen Tuchs begegnen.
Der „Palio del drappo verde“ von Verona wird in schriftlichen Quellen schon einige Jahrzehnte vor dem „Palio di Asti“ genannt. Trotzdem handelt es sich hier mit ziemlicher Sicherheit um eine etwas jüngere Form dieser städtischen Festveranstaltung. Während in Asti gleich die erste Erwähnung von „altem Herkommen“ spricht, hängt in Verona die Entstehung des Palio mit politischen Ereignissen zusammen, die auf 1207 oder 1208 zu datieren sind. Der erste Palio wird mit dem Sieg der ghibellinischen Partei in der Stadtgemeinde über die guelfischen Grafen von San Bonifazio und die mit ihnen verbündete Patrizierfamilie der Montecchi („Montaigu“) erklärt, die durch Shakespeares „Romeo und Julia“ in der Weltliteratur zu Ehren kam. Es handelte sich beim Palio von Verona um eine militärische Siegesfeier, die der Stadt - vermeintlich -mehr Freiheit brachte. Solche Siegesfeiern begegnen in der Folgezeit mehrfach als Anlass für die Einrichtung eines Palio. Der Sieg der Ghibellinen von Verona wurde mit Unterstützung des mächtigen Adeligen Ezzelino II. da Romano errungen. Dessen gleichnamiger Sohn errichtete als Generalvikar Kaiser Friedrichs II. in Oberitalien eine Schreckensherrschaft. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die gegen das tyrannische Regime Ezzelinos III. errungenen militärischen Erfolge ihrerseits zur Einrichtung von Pferderennen als Siegesfeier führten - so etwa in Ferarra.
Solche Palio-Veranstaltungen sind im 13. Jahrhundert ein etwas anderer und sicher jüngerer Typ als der „Palio di Asti“. Bei ihnen ist der Tag des militärischen Erfolgs für die Festveranstaltung entscheidend, nicht der kirchliche Festtag des Stadtpatrons. Auch Verona hatte einen solchen, nämlich den heiligen Zeno, wie Secundus von Asti einer der frühen Bischöfe der Stadt. Die Routenführung des Palio von Verona ergibt allerdings keinerlei Zusammenhang mit der bedeutenden Basilika des heiligen Zeno außerhalb der Stadt. Insgesamt hat der Patronskult hier für den Palio keine Bedeutung.
Die Bezeichnung „Palio del drappo verde“ für die Festveranstaltung in Verona verweist auf ein wertvolles Tuch als Preis für den Sieger, das von der Stadtgemeinde gespendet wurde. Dieser Preis ist hier allerdings ursprünglich für den Gewinner einer Laufkonkurrenz zu Fuß gedacht, nicht für den eines Pferderennens, das aber offenbar von Anfang an zum gleichen Festtermin abgehalten wurde. Dieser Vorrang des „grünen Tuchs“ vor dem scharlachroten für das Pferderennen ist schwer zu erklären. Ein wichtiger Kronzeuge für die maßgebliche Bedeutung des grünen Tuchs schon in der Frühzeit der Festveranstaltung ist kein geringerer als Dante Alighieri. „Che corrono a Verona il drappo verde“ heißt es bei ihm ein einem Vers seiner „Divina commedia“. Dante kannte Verona sehr gut. Nach seiner politischen Verurteilung in Florenz 1302 war er nach Verona ins Exil gegangen. 1312 bis 1318 ist er hier wieder präsent – und zwar als Gast der Familie della Scala, die damals in Verona vor ihrem Aufstieg zur Signorie der Stadt stand. So hat er hier sicher verschiedene Festveranstaltungen der Stadt selbst miterlebt – auch solche mit dem „drappo verde“ als Siegespreis für den Gewinner.
Die Farbe Grün#
Die Farbe Grün hatte im mittelalterlichen Verona besondere Bedeutung. Bis in die Gegenwart hat sich die Bezeichnung „Veroneser Grün“ erhalten. Sie charakterisiert einen Farbton, der nach einem Mineral benannt ist, dessen wichtigste Fundstelle am Monte Baldo bei Verona liegt. „Grüne Erde“ aus Verona wurde in der spätmittelalterlichen Malerei viel verwendet – natürlich auch in der Veroneser Malschule eines Altichiero da Zevio und seiner Nachfolger. Ebenso wurde dieses relativ seltene Mineral für das Färben von Tuchen verwendet. „Viridis“ – das bedeutet, „die Grüne“ war ein Frauenname, der sich im Mittelalter speziell in Verona findet. Die Stammmutter der della Scala-Dynastie, Gattin des ersten Signore Alberto I. und Mutter des großen Cangrande hieß Viridis. Der Name wurde unter ihren Nachfahrinnen wiederholt weitergegeben. Viridis Visconti, die Ehefrau von Herzog Leopold III. von Österreich, war durch ihre Mutter Beatrice della Scala deren Ururenkelin. Diese Heirat führte zu einer nachhaltigen Beziehung zwischen Verona und Wien. Die Nachahmung des Palio von Verona durch Herzog Albrecht III. ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen. Dass sich – trotz des hochwertigen Scharlachtuchs als Preis des Pferderennens in Verona die Bezeichnung „Palio del drappo verde“ hielt, könnte mit der raschen Verbreitung des Dante-Textes zusammenhängen. Wie die Bedeutung Astis und seines Pferderennens ist wohl auch die von Verona und seinem Palio im Kontext der besonderen Verkehrsverbindungen zu sehen. Verona war der Schlüssel zu den östlichen Alpenpässen. Allerdings erlangten diese deutlich später ihre große wirtschaftliche Bedeutung als die von Asti aus zugänglichen westlichen. Sie waren primär Fernhandelswege. Eine vergleichbare Rolle für das internationale Finanzwesen erreichte Verona nie. Auch in politischer Hinsicht liegt die große Zeit der östlichen Passstraßen über die Alpen später als die der westlichen. In den Routen der Romzüge deutscher Könige spiegelt sich diese Phasenverschiebung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Verona insgesamt im Mittelalter eine geringere Bedeutung gehabt hätte als die Zentren der westlichen „Langobardia“. Verona war immerhin eine Residenzstadt des Ostgotenkönigs Theoderich gewesen. Auch Alboin, der erste langobardische König in Italien, residierte hier und wurde auch hier begraben. Residenzstadt war Verona dann wiederum in der Karolingerzeit. Karl der Große setzte seinen Sohn Pippin hier als König von Italien ein. Es gab also in Verona eine reiche königliche Palastkultur. Mit der Begründung des Palio als politische Siegesfeier 1208 oder 1209 hatte das alles aber nichts zu tun. Wesentlich scheint mit dem Blick auf die spätmittelalterliche Festkultur des Palio die Rolle Veronas in der Emanzipationsbewegung der oberitalienischen Stadtkommunen.1136 werden erstmals gewählte Konsuln der Stadt Verona genannt. 1163 schloss Verona mit Padua, Vincenza und Venedig den ältesten Städtebund als antikaiserliche Allianz, also noch vor der „Lega Lombarda“, der s später dann die Städte der Veroneser Liga beitraten. Die frühe städtische Freiheitsbewegung der „Lega Veronese“ dürfte wohl auch von den politischen Strukturen der benachbarten Republik Venedig beeinflusst gewesen sein, die ja ursprünglich dieser Städteallianz angehört hatte. Im Kontext der „Lega Lombarda“ erlebte Verona dann weitere Impulse des oberitalienischen Kommunalismus.
Die Entstehung der freien Stadtgemeinde von Verona wird in der Lünette des Portals der Basilika von San Zeno bildlich dargestellt. In der Mitte steht segnend der heilige Stadtpatron. Rechts von ihm ist die Gruppe der Reiter dargestellt, die in die Kommune eintreten, links die der Krieger zu Fuß. Zusammen bilden sie die „libera communitas“. Die Darstellung kontrastiert also augenfällig zwei Trägergruppen der Stadtgemeinde. Beide veranstalten dann im frühen 13. Jahrhundert ihren eigenen Palio - die einen zu Pferd, die anderen zu Fuß. Auch weitere Darstellungen dieses Portals erscheinen bemerkenswert – vor allem ein Fries mit verschiedenen Hundebildern sowie ein von Ochsen gezogener Wagen. Beide Darstellungen verweisen auf langobardische Traditionen, die auch in Verona sehr stark waren. Grabbeigaben geopferter Pferde und auch Hunde lassen sich in den Gräbern langobardischer Großer in der Region von Verona aus der paganen Frühzeit der Langobarden nachweisen. In der Namengebung der della Scala im 14. Jahrhundert begegnen Hundenamen wie „Mastino“, „Canfrancesco“, „Cangrande“ und „Cansignorio“, ebenso aber auch der Name des ersten Langobardenkönigs in Italien Alboin. Solche Namen könnten durch die Kenntnis der „Historia Langobarorum“ des Paulus Diaconus bedingt sein, die in der Bibliothek des Domkapitels von Verona überliefert war. Sie bildete offenbar die Grundlage für eine Renaissance der langobardischen Frühzeit im Spätmittelalter. Ob die bemerkenswerte Darstellung eines Ochsenwagens mit dem „Carroccio“ zusammenhängt, sei dahingestellt. Bis zur Eingliederung von Verona in das Territorium von Venedig pflegte die Stadt ihren „Carroccio“ als altes Symbol kommunaler Freiheit. 1583 wurde er mutwillig zerstört.
Aus seiner langobardischen Tradition war Verona – ähnlich wie Asti – eine Stadt der Pferde. Paulus Diaconus berichtet, dass die Langobarden nach ihrer Landnahme die mitgebrachten Pferderassen durch Einkreuzen von Wildpferden zu verbessern versucht haben. Die Pferdezucht reicht in der Region von Verona sehr weit zurück und hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Eine der ältesten Adelsfamilien von Verona nannte sich „Cavalli“. Sie hatten das Pferd als Wappentier. Die Grabkapelle dieses Adelsgeschlechts in der Dominikanerkirche Santa Anastasia zeigt das berühmte Bild von Altichiero da Zevio, dem Begründer der Malerschule von Verona. Das Fresko ist übersät mit Pferdedarstellungen. In der Veroneser Malschule spielen insgesamt Pferdedarstellungen eine wichtige Rolle.
Die della Scala, die aus dem Patriziat der Republik Verona schließlich zur erblichen Signorie aufstiegen, haben nicht nur den Palio stark gefördert, sondern auch den Pferdedarstellungen einen einmaligen Höhepunkt verschafft. Ihre Grabdenkmäler sind durch Reitermonumente besonders charakterisiert. Das erste Grabmonument dieser Art ist das von Cangrande I. über dem Portal der Familienkirche der della Scala in Santa Maria Antica. Einige seiner Nachfolger setzten diese Sepulkralkultur fort. So entstand der berühmte Familienfriedhof der Skaligergräber, der Verona in der kunstgeschichtlichen Entwicklung eine Sonderstellung verleiht. Nirgendwo sonst wurde dem Reiter und seinem Pferd auf Friedhöfen eine solche Ausnahmestellung gegeben.
Die Entwicklung des Palio von Verona ist deshalb gut rekonstruierbar, weil die Gestaltung dieses Stadtfestes immer wieder von Neuem seitens der Obrigkeit geregelt wurde. Im „Statutum Albertinum“, das 1271 auf der Basis älterer Vorschriften für Alberto I. della Scala angelegt wurde, sind zwei Rennen am ersten Sonntag der Fastenzeit vorgesehen – eine Konkurrenz von Reitern und eine von Läufern. Cangrande I. präzisierte 1328 nähere Details: Der Gewinner des Pferderennen sollte ein Scharlachtuch erhalten. Für den letzten Reiter der Konkurrenz war hingegen ein Schweinsfuß vorgesehen. Der Lauf zu Fuß wurde mit einem grünen Tuch prämiert. Für den zuletzt am Ziel eintreffenden Läufer gab es einen Hahn. Giangaleazzo Visconti bestätigte nach der Vertreibung der della Scala 1393 das alte Statut, er fügte allerdings ein neues Rennen zu Fuß hinzu, bei dem auch Frauen zugelassen waren. Die Preise für die Erst- und Letztplatzierten waren bei Männern und Frauen die gleichen. Die Männer sollten nackt laufen – vielleicht um Behinderungen durch Festhalten an der Bekleidung unmöglich zu machen. Unter venezianischer Herrschaft wurde der Termin des Palio 1450 auf den letzten Donnerstag vor dem Beginn der Fastenzeit fixiert. Die Festveranstaltung nahm nun auch karnevaleske Züge an. Weiterhin wurde die ganze Stadtbevölkerung einbezogen. Schon in der Zeit der letzten Signori aus dem Haus der della Scala wurden neben dem großen Palio in der Fastenzeit im Gedenken an den Sieg der Ghibellinnen zusätzlich besondere Rennen aus Anlass von Festen der Dynastie abgehalten. 1363 fanden aus Anlass der Hochzeit von Cansignorio della Scala mit Agnes von Durazzo insgesamt sechs verschiedene Läufe statt. Das städtische Fest ging zunehmend in eine Veranstaltung der Signorie über, hielt sich aber auch in der Zeit der venezianischen Herrschaft bis ins ausgehende 18. Jahrhundert.
Sicherlich nach dem Vorbild oberitalienischer Pferderennen wurden auch in Wien im Spätmittelalter ähnliche Veranstaltungen als städtische Volksfeste durchgeführt. Die Bezeichnung „Palio“ findet sich hier allerdings nicht. 1451 wird das Wiener Pferderennen als „spectaculum scarlaci“ charakterisiert. Zu Recht hat sich deshalb in der Literatur der Begriff „Wiener Scharlachrennen“ eingebürgert. Der Sache nach war volle Übereinstimmung mit den oberitalienischen Vorformen gegeben. Auch in Wien stand das Pferderennen im Mittelpunkt der Veranstaltung. Auch in Wien erwartete den Sieger ein wertvolles farbiges Tuch. In Wien war dessen Farbe stets scharlachrot. Auch in Oberitalien hatten sich mehr und mehr solche Scharlachtücher als Hauptpreis durchgesetzt. Tücher scharlachrot zu färben, war ein besonders teures Verfahren. Ein Tuch dieser Farbgebung als Siegespreis zu erhalten, galt dementsprechend als eine besonders hohe Auszeichnung.
Die Entstehung der Wiener Scharlachrennen lässt sich ziemlich genau datieren. !382 bestimmte HerzogAlbrecht III., dass alle „laufferpherd“, die zu den beiden großen Jahrmärkten zu Christi Himmelfahrt und am St. Katharinentag, also dem 25. November, nach Wien gebracht werden, mautfrei in die Stadt gelangen sollten. Die beiden Jahrmarktveranstaltungen sind älter. Aber keines der früheren Privilegien sieht Abgabenfreiheit für Rennpferde vor. So besteht die Vermutung wohl zu Recht, dass die beiden Pferderennen in ihrem Ursprung auf diese Urkunde Herzog Albrechts III. zurückgehen.
In den 60er Jahren des 14. Jahrhunderts haben die habsburgischen Herzoge verstärkt Beziehungen zu den oberitalienischen Signorien aufgenommen – insbesondere mit den della Scala in Verona. Als Rudolf IV. 1363 der Erwerb Tirols gelang, wurden die habsburgischen Länder und die Signorie Verona zu unmittelbaren Nachbarn. Zweimal kam Herzog Rudolf IV. selbst nach Verona - zunächst auf der Durchreise zur Hochzeit seines jüngeren Bruders Leopold III. mit Viridis Visconti, die mütterlicherseits aus der Familie der della Scala stammte, dann auf dem Weg zu Verhandlungen mit seinen Verwandten in Mailand, bei denen er unerwartet verstarb. Die Reise über Verona nach Mailand zur Hochzeit seines jüngeren Bruders dürfte Albrecht III. gemeinsam mit Rudolf und Leopold gemacht haben, handelte es sich doch um eine wichtige Familienverbindung. Sehr wahrscheinlich war also Albrecht schon in jungen Jahren in Verona. Als 1375 Cansignorio della Scala verstarb, beanspruchte dessen Schwester Beatrice, die Mutter von Viridis, Verona für die Visconti. 1387 vertrieb Giangaleazzo Visconti, der Cousin und Schwager von Viridis, die della Scala endgültig aus der Stadt. Einige Angehörige der alten Signorenfamilie ließen sich in Wien nieder – sicher in Verbindung mit dem Hof Albrechts III. Antonio della Scala, der letzte Kurzzeit-Signore von Verona erhielt ein Votivbild in der Vorhalle des Singertors von St. Stephan – wahrscheinlich von seinen Geschwistern gestiftet. (Vgl. Michael Mitterauer, Wer malte das Porträt Herzog Rudolfs IV.?). Nicht weniger als sechs della Scala-Nachkommen wurden in der Folgezeit in der Augustinerkirche in Wien in unmittelbarer Nachbarschaft zum habsburgischen Hof beigesetzt. Unter Albrecht III. kam es also in mehrfacher Hinsicht zu einer Fortsetzung der von Rudolf IV. begonnenen Beziehung zu den Skaligern.
Wien#
Wenn auch die von Albrecht III. verliehene Mautfreiheit für Rennpferde, die aus Anlass der beiden Jahrmärkte nach Wien gebracht wurden, eine wesentliche Voraussetzung für die hier abgehaltenen Scharlachrennen war – die Pferderennen selbst wurden von der Bürgerschaft der habsburgischen Residenzstadt veranstaltet. Die städtische Obrigkeit organisierte die Veranstaltung und kam für die entstehenden Kosten auf. Deutlich zeigen das die Abrechnungen der Finanzverwaltung. Die Landesfürsten waren an der Abhaltung des Stadtfests offenbar interessiert. Manche nahmen persönlich daran teil oder ließen ihnen gehörige Pferde für sich laufen. Die eigentlichen Veranstalter aber war die Bürgerschaft. Auch in diesem Verhältnis von Fürst und Stadt entspricht das Wiener Scharlachrennen den oberitalienischen Typus.
Übereinstimmungen mit den oberitalienischen Pferderennen zeigen sich auf mehreren Ebenen. Es sind zunächst hier wie dort dieselben Typen von Konkurrenzen. Neben dem eigentlichen Pferderennen gab es auch in Wien Laufveranstaltungen zu Fuß – und zwar ebenso wie in Verona für Männer und Frauen. Viele Übereinstimmungen gab es auch in den Formen der Prämierung von Siegern und Siegerinnen. Das wertvolle Tuch als Preis ist bei allen diesen Konkurrenzen eine durchgehende Konstante, die sich vom „Palio di Asti“ über den „Palio del drappo verde“ bis hin zum Wiener Scharlachrennen beobachten lässt. Neben traditionellen Seidentüchern wurden in Wien – der textilen Entwicklung folgend – auch Barchenttücher vergeben. Es gab vielfach auch zweite und dritte Plätze, die prämiert wurden. In Asti war das ein lebender Hahn als Symbol der freien Gemeinde. In Verona begegnet der Hahn erneut, allerdings für den letzten Platz. In Wien wird mehrfach als zweiter Preis eine Armbrust genannt. Auch das bedeutete eine Auszeichnung, war doch die Armbrust in Italien immer mehr zur bürgerlichen Waffe schlechthin geworden. Es gab hier spezielle Palio-Konkurrenzen für Armbrustschützen, etwa in Lucca. Auch die in Oberitalien vielfach nachweisbare Tradition einer Gabe für den Letztplatzierten wurde in Wien aufgegriffen.
Nicht alle Übereinstimmungen des Wiener Scharlachrennens mit oberitalienischen Vorbildern müssen über Verona vermittelt gedacht werden. Aber die wichtigste Linie der Beeinflussung lief wohl doch über diese Stadt. Verona war der Ausgangspunkt der Alpenübergänge, die über Tirol in die habsburgischen Territorien führte. Verona war die bedeutendste Palio-Stadt des östlichen Oberitalien. Verona hatte eine alte Münzstätte, deren Einzugsbereich weit über die Alpen nach Norden reichte. Dass im 15. Jahrhundert ausdrücklich Veroneser Scharlachtuch für den Sieger des Wiener Pferderennens vorgesehen war, deutet wohl auch auf Verona als unmittelbares Vorbild.
Trotz vieler Übereinstimmungen in Riten und Organisationsformen zwischen den oberitalienischen Palio-Städten und dem spätmittelalterlichen Wien als Austragungsort ähnlicher Konkurrenzen gilt es auch Unterschiede zu sehen - etwa solche, die sich aus strukturellen Gegebenheiten des jeweiligen Umlands ableiten lassen. Schon das Privileg Herzog Albrechts III. von 1382 zeigt, dass die ins Rennen geschickten Pferde hier hauptsächlich importiert werden mussten. Deshalb wurde den Besitzern Mautfreiheit zugesichert. Ganz anders die Verhältnisse in den beiden hier näher behandelten Palio-Städten Asti und Verona. Die Pferdezucht hatte im Umland der Städte eine sehr weit zurückreichende Tradition – in beiden Fällen bis in die Zeit der Landnahme durch die Langobarden. Die Entstehung des Palio als mittelalterliches Stadtfest erscheint also zunächst an traditionelle Pferdezuchtgebiete gebunden.
Die das Scharlachrennen in Wien tragende Oberschicht des Stadtpatriziats lässt sich nicht primär als Reiteradel begreifen wie in den Palio-Städten Oberitaliens. Sie hatte auch keine Entsprechung mit jenen Führungsgruppen, die dort zur Entstehung von autonomen Stadtrepubliken beigetragen hatte. Zu einer vergleichbaren Emanzipationsbewegung reicher Städte gegenüber Kaiser und Reichskirche ist es hier nicht gekommen. Als Ausdrucksform der Kommunebildung konnte die habsburgische Residenzstadt des Spätmittelalters den Palio nicht übernehmen. Sicher war das 14. und 15. Jahrhundert in Wien eine Phase zunehmenden bürgerlichen Selbstbewusstseins. Aber große Sieges- und Befreiungserlebnisse hatte man hier nicht zu feiern. Es ist wohl kein Zufall, dass in Wien kein Schlachtensieg sondern ein Jahrmarktsprivileg am Anfang der Entwicklung des städtischen Pferderennens steht. Mit dieser unterschiedlichen Entstehungsgeschichte hängt es wohl auch zusammen, dass das Wiener Scharlachrennen im 16. Jahrhundert verschwand, ohne dass es in der Traditionsbildung der Stadt einen besonderen Platz erreicht hätte. Das spätmittelalterliche Stadtfest wurde von der lokalen Geschichtsschreibung wieder entdeckt. In Stadtfesten der Moderne ein „reenactment“ zu organisieren, wie das in Italien begegnet, dafür gab es im Geschichtsbewusstsein der Wiener Bevölkerung keinerlei Ansatzpunkte. Auch die liberale Ära, die so gerne an frühere Epochen des Kommunalismus anknüpfte, hat das Thema nicht aufgegriffen.
Das Wiener Scharlachrennen hat als Vorbild auf ähnliche Veranstaltungen im oberdeutschen Raum ausgestrahlt. Viele Entsprechungen, denen hier nicht im Detail nachgegangen werden kann, finden sich im Scharlachrennen der Stadt Nördlingen in Franken. Die wichtigste ist wohl die Entstehung aus Jahrmarkttreffen. Die oberdeutschen Pferderennen haben insgesamt keine Wurzeln in militärischen Strukturen wie die Palio-Veranstaltungen in Italien. Ökonomische Wurzeln stehen im Vordergrund. Der Aufschwung der Tuchindustrie ist diesbezüglich erwähnenswert, etwa in Nördlingen, einem Mittelpunkt der Barchentindustrie. Parallelen zu Wien ergeben sich in anderer Weise bei den Pferderennen von München. Wie in der habsburgischen Residenzstadt Wien war auch in der wittelsbachischen in München das Landesfürstentum an der Entstehung beteiligt. In München hat freilich diese Traditionslinie länger angehalten. Als am 17. Oktober 1810 Kronprinz Ludwig von Bayern die Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen heiratete, stand als Abschluss der fünftägigen Festlichkeiten ein Pferderennen an einem Austragungsort außerhalb der Stadt am Programm. Dieser Platz hieß seither „Theresienwiese“. Die Pferderennen wurden hier allerdings nicht fortgesetzt. Das auf der „Theresienwiese ausgetragene große Stadtfest heißt – dem dynastischen Ereignis folgend - „Oktoberfest“. Es ist heute der Schauplatz des größten Bierfests der Welt.
So sind es viele funktionale Diskontinuitäten, die die Linie jener städtischen Festkultur begleiten, die sich aus den großen Pferderennen Italiens im Mittelalter ableiten lassen. Für eine Geschichte des europäischen Kommunalismus sind auch solche divergierenden Entwicklungslinien interessant. Die Frage nach ihren regionalen und epochalen Besonderheiten führt als jeweiliger sozialer Kontext in sehr unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche. Für eine komparativ orientierte Stadtgeschichte sind sie sicher von Interesse. Dass Wurzeln aus langobardischer Frühzeit in ihnen nachwirken, mag ein überraschender Erklärungsansatz sein, der in der Geschichte des europäischen Kommunalismus Beachtung verdienen mag.
LITERATUR #
- Blickle, Peter: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Band 2: Europa, München 2000
- MacKenzie, Elizabeth Tobey:The Palio in Italian Renaissance. Art, Thought and Culture, Diss. University of Maryland 2005
- Opll, Ferdinand: Das Wiener Scharlachrennen. Ein Pferderennen als Event in der mittelalterlichen Stadt, Jahrbuch für Geschichte der Stadt Wien 72/73 (2016/7), S. 109-154
- Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, Kapitel III/2 „Gemeinden und Republiken“, S. 235 -257
- Wickham, Chris: Sleepwalking into a New World. The Emergence of the Italian City Communities in the 12th Century, Princeton 2015
- Longobardi – Wikpedia (it.)
- Palio – wikipedia (it.)
- Palio di Asti - wikipedia (it.)
- Palio del drappo verde = Palio di Verona – wikipedia (it.)
- Storia di Asti – wikipedia (it.)
- Storia di Verona- wikipedia (it.)
Alle Bilder: Wikipedia