Heimo Cerny: Vierkanter. Wahrzeichen des Mostviertels #
Heimo Cerny: Vierkanter. Wahrzeichen des Mostviertels. Volkskultur Niederösterreich Atzenbrugg 2012. 302 S., durchgehend farbig ill., € 29,70
Vierkanthöfe und Streuobstwiesen prägen das Landschaftsbild im Viertel ober dem Wienerwald. In den Gemeinden an der Moststraße bestehen 3000 solcher Gehöfte, durchschnittlich 100 pro Ortsgemeinde. Doch das war keineswegs "schon immer" so. Erst Ende des 19. Jahrhunderts ist der Name Mostviertel schriftlich nachweisbar, die "vollkommene Gehöftform" des Vierkanters auch nicht viel älter.
Rechtzeitig zur Bundesländer übergreifenden Ausstellung "Leben im Vierkanthof" im 900-jährigen niederösterreichischen Stift Seitenstetten und im Sumerauerhof in St. Florian, einer Außenstelle des OÖ Landesmuseums, ist ein repräsentatives Werk über die "Wahrzeichen des Mostviertels" erschienen. Die Volkskultur Niederösterreich setzt damit die Reihe ihrer großzügig ausgestatteten und kompetent verfassten Jahresbände fort (2011 "Das Industrieviertel", 2010 "Alle heiligen Zeiten", 2009 "Das Waldviertel"). Diesmal ist der Historiker Heimo Cerny der Autor, der seit vielen Jahren Archiv-Recherchen und Feldforschungen zum Thema Mostviertel betrieben und publiziert hat. Meisterhafte aktuelle Fotos aus der Amstettener Medienwerkstatt "Randlos" und viele bisher unveröffentlichte Aufnahmen aus den Privatsammlungen der Hofbesitzer informieren über die, oft gefährdeten, "Burgen des Mostadels" und die Grundlage seines Wohlstands.
Vor sieben Jahrtausenden wurde hier die Wildbirne heimisch. Seit sechs Jahrtausenden lassen sich Ackerbauern im Mostviertel nachweisen. Die Regenten Maria Theresia und Joseph II. gaben für die Pflanzung von Streuobstbäumen staatliche Förderungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wies der Bezirk Amstetten mit 485.000 Birnbäumen die weitaus größte Dichte an diesen auf. Das änderte sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatisch. Der Streuobstbau wurde damals als "betriebswirtschaftlich unrentabel" eingestuft und die Rodung von Streuobstwiesen subventioniert, um Platz für Obstplantagen und Bauland zu schaffen. Eine Studie der Universität für Bodenkultur stellte in Neuhofen/Ybbs zwischen 1953 und 2002 einen Verlust an Streuobst um 67 % fest. Auch das Kulturgut Vierkanter sieht einer ungewissen Zukunft entgegen. Es entspricht nicht den Anforderungen der EU-Landwirtschaft. Allerdings gibt es auch Gegentrends. Most gilt wieder als regionale Spezialität, für die architektonischen Leitbauwerke lassen sich neue Nutzungen finden.
Heimo Cerny zeichnet ein umfassendes Bild der Wahrzeichen des Mostviertels. Dabei findet sich viel allgemein Wissenswertes über bäuerliche Wohn- und Wirtschaftsbauten. Bei der "Genese" des Vierkanters kann er schlüssig veralteten Kontinuitätstheorien eine Absage erteilen und herrschaftliche Zehenthöfe als Vorbild nachweisen. Die "Wiege des Vierkanters" ist das oberösterreichische Traunviertel. Die dort begüterten Klöster begannen in der Barockzeit, Meierhöfe samt Gründen an bäuerliche Untertanen zu verpachten. Solche Angehörigen des "Florianer Bauernadels" brachten es zu großem Wohlstand und Ansehen, "sie waren Schrittmacher der Vierkanterkultur im Traunviertel." Allmählich erfasste die neue Gehöftform (die bisher einzeln stehende Gebäude unter einer Firstlinie verband) die jenseits der Enns angrenzenden Regionen, "allerdings mit einer Verzögerung von einem Jahrhundert."
Für die Ausformung des Vierkanters im 19. Jahrhundert im Mostviertel nennt Heimo Cerny vier Ursachen: "Die Auswirkungen der theresianisch-josephinischen Reformen, die Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit, das Geschäft mit dem Most, den Bau der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn." Seit der Zeit Maria Theresias umgaben hunderte bis über 1000 Mostobstbäume jeden Hof, vergorener Most war der klassische bäuerliche Haustrunk. Er wurde zur Handelsware, als Arbeiter in die Gegend kamen, nicht zuletzt die italienischen Wanderarbeiter vom Bahnbau. Zeitweise ließ sich mit dem Mosthandel besser verdienen, als mit dem Getreideverkauf. Der Autor spricht von der "Mostviertler Gründerzeit", in der sich Bauernhöfe "vom Zweckbau zum Prestigebau" wandelten. Er vergleicht Katastralpläne aus dem Biedermeier und um 1870, die den Wandel in Grundriss und Baumaterial eindeutig belegten. Doch hatte der Umbau oder Neubau nicht nur ökonomische Gründe, auch das Imponieren und Übertrumpfen mit Fassadendetails (bis hin zu Jugendstilornamenten) spielte eine Rolle. So zeigen alte Fotos vor ihrem Vierkanter aufgestellte Bauernfamilien, manchmal in bürgerlicher Kleidung und Statussymbolen wie Fahrrad oder Grammophon.
Üblicherweise verwendete man Baumaterial, das in der Gegend, auf dem eigenen Grund, vorhanden war, wie Holz oder Steine, und daher keine Kosten verursachte. Maria Theresia schrieb den bäuerlichen Untertanen für Neubauten die Verwendung von luftgetrockneten Ziegeln vor. Dies sollte die Feuergefahr minimieren und die Holzbestände schonen. Lehm gab es genug im Mostviertel, ab dem 19. Jahrhundert durften die Bauern in eigenen Feldöfen Ziegel brennen. Unverputzte Sichtziegelfassaden sind charakteristisch für die Vierkanthöfe des westlichen Mostviertels. Details verraten die Werke italienischer Wanderarbeiter, die in den Ziegeleien, beim Bahnbau und nach Fertigstellung der Trasse, an den Bauernhöfen tätig waren. Einflüsse der Eisenbahn- und Industriearchitektur, wie Rundbogenfenster, sind dabei nicht zu übersehen. Gebaut wurde in Etappen und von oben nach unten: Zuerst errichtete der Zimmermann ein einheitliches Dach auf einem Holzständer-Gerüst, in dessen Schutz dann in jahrelanger Arbeit aufgemauert wurde. In den 1870er Jahren galten die Sichtziegelbauten schon als rückständig und Putzfassaden nach städtischem oder adeligem Vorbild kamen in Mode. Auch das Innere des Vierkanters war repräsentativ gebaut. Gewölbte Hallen, Küchen und sogar Ställe kommen der gegenwärtigen Umnutzung sehr entgegen. Fast verschwunden ist eine einstige Besonderheit, die "Hohe Stube". Dieses feierliche Zimmer im Obergeschoß wurde kostbar gestaltet, manchmal kapellenartig eingerichtet, aber so gut wie nie benutzt. Es diente nur "der Zurschaustellung einer erfolgreichen Ahnenreihe und des erwirtschafteten Wohlstands." Reiche Bauern leisteten sich auch eine eigene Hauskapelle vor dem Hof.
Neben den Wirtschaftstrakten für die Viehzucht und dem Misthaufen in der Mitte des Hofes spielten die "Kellerwelten" eine wichtige Rolle. Cerny bezeichnet die geräumigen Mostkeller als "regionale Goldminen" und beschreibt die oft darunter liegenden geheimnisumwitterten Erdställe. Manche Mostbauern verwendeten zum Herstellen und Lagern keine Keller, sondern Presshäuser. Sie sind ebenso funktionslos geworden, wie die Kellerwelten. Neue Produktionsmethoden erfordern statt Eichenfässern Stahltanks. Sein letztes Kapitel widmet der Autor der "Gegenwart und Zukunft des Vierkanters", wobei er auf verschiedene Beispiele gelungener Umnutzung verweisen kann.
2011 führte das Institut für Geografie und Regionalforschung der Universität Wien in Haag eine Bestands- und Entwicklungsaufnahme durch. Werner Dietl, Martin Heintel und Norbert Weixlbaumer analysierten Nutzungsprofile und Trends. Ihr Resümee: "Es besteht in Haag dem Vierkanter gegenüber eine große Wertschätzung in seiner Bedeutung als kulturelles Erbe. Eine flächendeckende Erhaltung und Pflege ist jedoch nicht sichergestellt. Der Gesamttrend geht in Richtung vielfältiger sozialer und ökonomischer Struktur, aufgespannt zwischen Verfall, Revitalisierung und Innovation."