Der neue radikale Maschinenkult#
Der Digitalismus zelebriert sich als neue Heilslehre. Der Mensch bleibt dabei auf der Strecke.#
Einleitung#
Die Meldung, dass Anthony Lewandowski – ein Spitzeningenieur des Silicon Valley – eine religiöse Organisation namens «Way of the Future» gegründet hat, ging letztes Jahr um die Welt. Ziel der im September 2015 gegründeten Kirche sollte die «Entwicklung und Förderung einer Gottheit basierend auf künstlicher Intelligenz» sein.Es war am 20. desselben Monats, 15.000 Kilometer entfernt im französischen Chamonix, als mir zum ersten Mal klarwurde, dass es sich beim Digitalismus um eine Religion handelt. Den Rahmen setzte eine Zusammenkunft führender Technologen und Wirtschaftsführer; das Thema eines Podiumsgesprächs mit Topmanagern von Google, Ebay, dem CEO eines prominenten US-Think-Tanks und einer Risikokapitalistin lautete: «Technologie stellt unsere Welt auf den Kopf – was läuft?»
Das digitale Paradies#
Während die Podiumsteilnehmer immer enthusiastischer predigten, wie die Digitalisierung die Welt besser machen werde, hatte auch ich eine Offenbarung: Es wurde mir plötzlich klar, dass hier Jünger einer Sekte sprachen, zutiefst Gläubige, die das nahende Paradies mit glühenden Augen heraufbeschworen.
In ihrem Paradies fahren die Autos selbst; die Fabriken produzieren von alleine; Software und Technologie heilen alle Krankheiten; virtuelle Realitäten ermöglichen uns die sofortige Erfüllung aller Träume; wir sind von Roboterdienern umgeben, die unsere tiefsten Wünsche besser verstehen als wir selbst. Kurz, das Schlaraffenland, in dem einem die gebratenen Tauben direkt in den Mund fliegen, ist endlich in greifbarer Nähe.
«Diese Leute sind Atheisten, sie haben keine Religion, der Mechanismus aber ist gleich. Gott kommt und wird uns alle retten, nur ist Gott in diesem Falle die Technologie», sagte der Schriftsteller William Gibson in einem Interview im Magazin der «Zeit». Gibson liegt falsch. Diese Leute haben sehr wohl eine Religion: Digitalismus, Maschinenreligion. Der Glaube an die Transzendierung des Menschseins mittels Maschinen. Kevin Kelly, Gründer des Online-Magazins «Wired», hatte bereits 2002 in einem Artikel mit dem Titel «God is the Machine» gezeigt, wie Digitalisten buchstäblich an die transzendente Macht digitaler Rechenoperationen glauben.
Die Parallelen zwischen Digitalisten und den Fanatikern anderer Religionen sind auffallend. Wer sich nicht zum Digitalismus bekennt, wird sich mit einer miserablen und anachronistischen Existenz in einer dysfunktionalen, analogen, dem Untergang geweihten Welt abfinden müssen. Das klingt ungefähr so, als würden uns Katholiken mit ewiger Verdammnis in der Hölle drohen.
Dass infolge digitaler Demenz und Verdummung Maschinen tatsächlich bald intelligenter sein könnten als Menschen, ist nicht ganz unwahrscheinlich. Aber kein Grund zur Sorge – intelligente Maschinen werden auch dafür Lösungen finden. Auch um Risiken braucht man sich nicht zu scheren. Computer werden bald so intelligent sein, dass sie alle derartigen Probleme alleine bewältigen.
Digitalisten glauben an die angeborene Fehlerhaftigkeit des Menschen, so wie Christen an die Erbsünde glauben. Wie das Christentum Erlösung von der Erbsünde verspricht, so bietet uns der Digitalismus die Erlösung von unserem begrenzten Verstand, unseren irrationalen Emotionen und unseren alternden Körpern. Die digitale Erlösung kommt in Form von superintelligenten Maschinen; Chips, die wir uns ins Gehirn implantieren, und Festplatten, auf die wir unser Bewusstsein hochladen (so die Vision des Google-Propheten Ray Kurzweil). Die unsterbliche Seele der traditionellen Religionen wird bei den Digitalisten zu ein paar Software-Zeilen, auf die sich unser Geist reduzieren lässt.
Posthumanismus#
Die Maschinenreligion ist getrieben von einer tiefsitzenden Verachtung für den Menschen, für das Menschliche. Christopher Mims bezeichnete in einem im «Wall Street Journal» erschienenen Artikel über Cybersecurity den Menschen als «entscheidende, unreparierbare Schwäche»: «Die Geschichte zeigt, dass wir diesen Krieg nicht gewinnen können, indem wir das menschliche Verhalten ändern. Vielleicht schaffen wir es bald, Systeme zu bauen, die so wenig Entscheidungsmöglichkeiten zulassen, dass Menschen keine Dummheiten mehr begehen können.» Sein Fazit: «Bis wir in der Lage sein werden, das menschliche Gehirn zu verbessern, bleibt das die einzige Möglichkeit.»
Die Ablehnung des Menschlichen, verbunden mit dem Traum totaler digitaler Kontrolle, macht die Digitalisten zu Posthumanisten – mit einer zivilisierten Fassade. Dahinter werden die Parallelen zu anderen Fundamentalismen augenscheinlich. Wie André Glucksmann in seinem Buch «Dostojewski in Manhattan» brillant beschreibt, ist der Treiber von Bewegungen wie al-Kaida oder dem Islamischen Staat ein totalitärer Nihilismus, die Negation und Zerstörung aller menschlichen Werte – ein gewalttätiger, barbarischer Posthumanismus. Die Digitalisten würden das in ihren Augen minderwertige Menschliche am liebsten auf der Stelle auslöschen – wenn sie nur zuerst selbst zu einer Maschine werden könnten.
Wie viele Posthumanisten glauben auch Digitalisten, dass wir die letzten Tage des Homo sapiens erleben (oder erleiden). Uns steht wenn nicht ein unendlich verlängerbares Leben, dann doch wenigstens eine Fusion zwischen Mensch und Maschine in eine neue Super-Spezies bevor. Bis zum Wendepunkt – dem Erscheinen des Erlösers – dauert es noch rund zwanzig Jahre. Dann wird laut ihren Hohepriestern eine gottähnliche Superintelligenz erscheinen, der Messias des Maschinenzeitalters. Ähnlich wie der Glaube an die unbefleckte Empfängnis Marias steht am Beginn des Digitalismus der mystische Glaube, dass dereinst aus einer Maschine, wenn sie nur genug Nullen und Einsen verarbeiten kann, Bewusstsein entsteht.
Dazu gehört auch der Aberglaube, das Universum, ja Gott selbst, sei ein Computer und die Realität eine Simulation. Wenn wir unsere Rechenfähigkeit nur genug steigern, dann werden wir eins mit Gott – die ultimative Sehnsucht aller Religionen.
In Kevin Kellys 2002 erschienenem Artikel wurden verschiedene Theorien über «universelle Rechenoperationen» als eine Art digitalistischer Version von Spinozas singulärer Substanz beschrieben. Dort wird auch der Begriff Digitalismus zum ersten Mal verwendet. «Laut dem Digitalismus sind wir alle irgendwie verbunden, alles Lebendige und Reglose, weil wir, wie (der theoretische Physiker) John Wheeler sagte, im Grunde – im ganz tiefen Urgrunde – eine immaterielle Urquelle teilen», schrieb Kelly. «Diese Urquelle, Gegenstand zahlreicher Erörterungen von Mystikern aller Religionen, hat auch einen wissenschaftlichen Namen: Rechenoperationen.»
Zumindest einen Unterschied zwischen Digitalismus und anderen Religionen gibt es: Digitalisten, mit ihrer Betonung des vermeintlich Wissenschaftlichen, sind überzeugt, nicht zu glauben. «Wir sprechen nur von Fakten», sagte damals einer der Podiumsteilnehmer in Chamonix, als seine Visionen von Zuhörern infrage gestellt wurden.
Wenn Gott Gläubige durch ein Unglück prüft, so glauben Fanatiker aller Religionen, liege die Lösung in einer Stärkung des Glaubens. Entsprechend sind für Digitalisten Probleme, die der Digitalismus schafft, einfach zu lösen: durch mehr vom Gleichen. Mehr Computer, weniger Störfaktor Mensch. Eine Welt auf Autopilot. 200 Jahre nach Kant soll der Mensch endlich aufhören, seinen unterentwickelten Verstand zu nutzen. Dann steht der Zukunft nichts mehr im Weg.
Schöne neue Welt#
In Chamonix wurde, sozusagen als Abschluss der Messe – es war geradezu surreal –, andächtig das Lied «Imagine» von John Lennon abgespielt. Die Digitalisten haben ihre Hymne gefunden:
Imagine no possessions, I wonder if you can.
Ja, wir danken dir, o Airbnb und Uber.
Imagine all the people, sharing all the world.
Tun wir längst. Wir sollten nur einmal das Kleingedruckte lesen.
And the world will live as one.
Ein «soziales» Netzwerk der Zukunft, das uns via direkte Verbindung ins Gehirn zu einem einzigen übermenschlichen Supercomputer vernetzt und die Fake-News direkt auf die Netzhaut projiziert (sollten wir ihn «Matrix» nennen?).
Imagine there’s no heaven, easy if you try.
Alles, was nicht in die schöne neue Welt der Maschinen passt, muss auf dem Prokrustesbett der Digitalisten, der Welt der Nullen und Einsen, passend gemacht werden – um endlich alles Lebendige in Form toter und steriler Bits und Bytes beherrschen zu können.
Zum Autor: #
Wolfram Klingler ist Unternehmer im Finanz- und Fintech-Bereich und publiziert regelmässig zum Zeitgeschehen. Der obige Text erschien auf Englisch bei «Vice Motherboard».