Ernst Lauermann: Der Michelberg#
Ernst Lauermann: Der Michelberg - Ein archäologischer Hotspot im südlichen Weinviertel. Unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Elisabeth Rammer, Karin Kühtreiber, Paul Mitchell, Volker Lindinger, Anna Preinfalk (Archäologie), Margit Berner, Andrea Stadlmayr, Doris Pany-Kucera (Anthropologie), Herbert Böhm (Archäozoologie), Hubert Emmerig, Hanna Pietsch (Numismatik), Katharina Kaska (Historische Quellen). Edition Winkler-Hermaden Schleinbach 2019. 132 Seiten, ill., € 21,90
Mit diesem Buch ist dem früheren niederösterreichischen Landesarchäologen und seinem Team etwas Spezielles gelungen: Es ist wissenschaftlich fundiert, vielseitig, angenehm zu lesen und persönlich. Einleitend schreibt Ernst Lauermann über die, elf Kilometer nördlich von Stockerau gelegene, höchste Erhebung des Rohrwaldes im Bezirk Korneuburg: " Der Michelberg hat seit meiner Kindheit immer eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. … Der Berg strahlte einfach etwas Besonderes aus, das ich nicht wirklich beschreiben kann, das kann ich eben nur fühlen … die Verbundenheit ist tief im Herzen verankert." In den frühen 1980er Jahren hat der Autor bei Grabungen des Niederösterreichischen Landesmuseums mitgearbeitet. Weitere Forschungen erfolgten nach der Jahrtausendwende mit Hilfe Geophysikalischer Prospektionen. Sie bildeten die Basis archäologischer Untersuchungen von Ernst Lauermann und Franz Drost über die Kirche am Michelberg.
Als Erster berichtete der Historiker, Wiener Domherr und Universitätsdekan Thomas Ebendorfer von Haselbach (1388-1464) über das Gotteshaus in seiner Heimatgemeinde. Ebendorfer war einer der fruchtbarsten Autoren der Weltliteratur und steht in vorderster Reihe der deutschen Chronisten und Theologen des Mittelalters. Seine „Chronica Austriae" ist eine der wichtigsten spätmittelalterlichen österreichischen Geschichtsquellen. Er meinte, dass Karl der Große ein Gotteshaus auf dem Michelberg gegründet, das die Ungarn zerstört hätten. Dies ließ sich archäologisch zwar nicht bestätigen, doch dürften mit großer Wahrscheinlichkeit spätestens ab dem 11. Jahrhundert dort eine kleine Holzkirche und eine Siedlung bestanden haben. "Wir wollten dem Berg seine ursprüngliche Bedeutung im Leben der Menschen wieder ein Stück weit zurückgeben. Zahlreiche Kollegen und Kolleginnen konnte ich zur Mitarbeit gewinnen." , betont Lauermann.
Die archäologisch-historische Analyse ergab sieben Phasen. Der Michelberg ist seit der frühen Bronzezeit (Phase 1, circa 1800 vor Christus) besiedelt. Das Wall- und Grabensystem, das sich um das Bergplateau legt, ist noch gut sichtbar. Keramikfunde, wie ein prachtvolles Fußgefäß, verweisen auf qualitätvolle Objekte. Die Funktion der Anlage und Ursachen für ihr Ende bleiben rätselhaft. Wohltuend ist das Abwägen unterschiedlicher Erkenntnisse, die Spekulationen keinen Platz lassen. " Wir suchen immer aus unserer Sicht Erklärungen zu finden, die durchaus nicht mit der Wirklichkeit ident sein müssen, stoßen an unsere Grenzen und müssen diese erkennen," schreibt der Autor.
Bis zur Phase 2 vergingen viele Jahrhunderte. Das frühe Hochmittelalter (um 1000 bis um 1200) hinterließ vor allem Gräber als Spuren. Rund 80 Kinder- und Erwachsenbestattungen kamen zu Tage. Die meisten befanden sich im äußersten Nordosten des Plateaus. Funde von Kopfschmuck, Pfeilen, einer Münze und Keramikscherben sprechen für eine frühmittelalterliche Nutzung des Berges.
Phase 3 gliedern die Forscher in Phase 3A - die romanische Kirche (1200 bis 1300) - und Phase 3B - die Kirche im Spätmittelalter (um 1300 bis um 1500). Es handelte sich um eine ziemlich genau nach Osten orientierte Chorquadratkirche mit einem Westturm. Ein Stein- und ein Erdkeller sowie Haushaltskeramik weisen auf profane Bauten neben der Kirche hin. In der Phase 3B erhielt das Gotteshaus einen neuen Südturm. In dieser Zeit wurden weitere Bestattungen durchgeführt. "175 der insgesamt 222 bestatteten Individuen am Michelberg sind Tot-, Früh-, Neugeborene oder sehr junge Kinder. " Die meisten lagen in unmittelbarer Nähe der Kirche, beim Chor. Das Phänomen der "Traufenkinder" war im Mittelalter allgemein bekannt. Man glaubte, dass ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kämen. Durch Regenwasser, das vom Dach der Kirche rann, sollten sie wohl eine Art Taufe erhalten. Dies entsprach eher der populären Religiosität als amtskirchlichen Ansichten. In Kirchenbüchern findet sich nichts über den Brauch. Hingegen berichtet die um 1400 verfasste, als Abschrift aus dem 15. Jahrhundert erhaltene, "Lonsorfer Matrikel" erstmals von einer Kapelle "Ad sanctum Michahalem".
In Phase 4 (um 1500 bis 1745) erfuhr die frühneuzeitliche Kirche starke Veränderungen. Chor und Langhaus wurden neu gestaltet und mit einem Anbau im Westen ergänzt. Die Renovierungen umfassten einen neuen Marienaltar, einen Turm und eine Mesnerwohnung. In Phase 5 (1745 bis 1785) wurde die barocke Kirche errichtet. Der Neubau könnte mit einem angeblichen Marienwunder zusammenhängen. 1704 soll ein Gnadenbild der Verkündigung Mariens mehrfach zu "schwitzen" begonnen haben. Ein reger und lukrativer Wallfahrtsbetrieb war die Folge. Naturgemäß missfiel die Winkelwallfahrt den vorgesetzten kirchlichen Stellen. Sie sollte unterbunden werden, was aber nicht so einfach gelang.
Phase 6 (1785/1786) , die Zerstörung der barocken Kirche, datiert in die Josephinische Epoche. Obwohl die Bergkirche erst 40 Jahre als war, wurde sie abgebrochen. Hochaltar und Kanzel kamen in das Gotteshaus im Ort. 1866 gelobten Gemeindebewohner die Errichtung einer neuen Kapelle, sollten sie vom preußisch-österreichischen Krieg verschont bleiben. Sie hielten Wort, am Michaelstag des folgenden Jahres wurde die - bestehende - Kapelle geweiht. Am ehemaligen Standort des Gotteshauses setzte im 20. Jahrhundert Phase 7 ein - die Funkmessanlage aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Anlage bestand aus einem Mannschaftsgebäude, einer Garage und zwei Messgeräten auf runden Fundamenten. Ein sorgfältig beschriftetes Fotoalbum wurde zum seltenen Zeitdokument. Ein späterer Pfarrer, der als Obergefreiter auf dem Michelberg stationiert war, hatte es angelegt.
Die Zusammenarbeit mit dem interdisziplinären Team bereichert das reich illustrierte Buch um die Kapitel "Kleinfunde als Spiegel des Lebens und Sterbens", "Die Münzen vom Michelberg", "Der vergessene Friedhof am Michelberg. Knochenarbeit der Anthropologinnen", "Alles, nur keine Fastenspeisen! Das archäozoologische Fundmaterial" und "Archäologie und Kunst im öffentlichen Raum. Ein Projekt für die Nachhaltigkeit".
Das 21. Jahrhundert hat sich als "Kunst im öffentlichen Raum" auf dem Michelberg eingeschrieben. Nach dem Abschluss der Grabungen sollten die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Niederösterreichische Landesarchäologie und die Abteilung Kunst im öffentlichen Raum schrieben 2012 einen Wettbewerb aus, mit dem Ziel, einen konservatorischen Schutz für die Ausgrabungsstätte zu gewährleisten und die historischen Phasen in einer ästhetischen Lösung zu vermitteln. Der Wiener Bildhauer Stefan Klampfer konnte ihn für sich entscheiden. Seinem Projekt gelang es, "eine Verknüpfung zwischen Archäologie und moderner Kunst zu schaffen, die weit über die Grenzen Niederösterreichs hinaus als Vorzeigeprojekt angesehen werden kann."