Richard Zsigmondy#
von Alois Kernbauer
Assistent, Privatdozent, Nobelpreisträger#
Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1925 hieß Richard Adolf Zsigmondy, Professor und Direktor des Instituts für anorganische Chemie an der Universität Göttingen. Kaum jemand assoziierte seinen Namen mit Graz und der dortigen Technischen Hochschule, an der er in den neunziger Jahren ein halbes Jahrzehnt als Assistent und Dozent tätig gewesen war. Immerhin waren seit dieser Zeit auch schon drei Jahrzehnte verflossen; zudem war erst kurz zuvor, 1923, der Nobelpreis an den in Graz tätigen und in der Stadt überaus bekannten medizinischen Chemiker Fritz Pregl verliehen worden. Trotz all dieser Gründe bleibt dieses Übersehen der Grazer Tätigkeit Zsigmondys nicht ganz erklärlich, zumal Zsigmondy schon in seiner Grazer Zeit auf jenem Feld gearbeitet hatte, das ihn später berühmt machen sollte. 1926 erhielt er den Nobellpreis für das Jahr 1925 „für die Aufklärung der heterogenen Natur kolloidaler Lösungen sowie für die dabei angewandten Methoden, die grundlegend für die moderne Kolloidchemie sind“. Zsigmondy war einer der Pioniere in diesem zwischen Physik und Chemie liegenden Forschungsfeld, in dem er mit seinen grundlegenden Forschungsergebnissen Wesentliches zur Aufklärung der tatsächlichen Natur kolloidaler Lösungen beitrug. Kolloidale Lösungen, zu denen etwa Milch oder Blut gehören, zeichnen sich u.a. dadurch aus, daß sie aus einem flüssigen in einen gallertartigen Zustand überwechseln können.
Der Nobelpreis war die letzte, zweifellos aber die bedeutendste in einer langen Reihe von Auszeichnungen, die Zsigmondy erhalten hatte. Er gehörte zahlreichen gelehrten Gesellschaften an, so seit 1924 der Wiener Akademie der Wissenschaften als korrespondierendes Mitglied, aber auch den Akademien bzw. wissenschaftlichen Gesellschaften in Göttingen, Uppsala, Zaragoza, Valencia und Harlem; darüber hinaus wurden ihm mehrere Ehrendoktorate verliehen.
Zsigmondy stammte aus einer angesehenen Wiener Bildungsbürgerfamilie. Er war der dritte von vier Söhnen des Adolf Zsigmondy, Primararzt und Privatdozent, und dessen literarisch hochgebildeter Frau Irma, geb. Szakmary. Adolf Zsigmondy gehörte ebenso wie sein Sohn Otto als Zahnmediziner der berühmten Wiener Medizinischen Schule des 19. Jahrhunderts an. Er starb früh, sodaß Richard im Alter von fünfzehn Jahren Halbwaise wurde. Richards Brüder waren vorderhand aber nicht ihrer Verdienste um die Wissenschaft wegen, sondern aufgrund ihrer bergsteigerischen Leistungen ebenfalls stadtbekannt, namentlich der Arzt Emil Zsigmondy, der mit seiner Schrift "Im Hochgebirge. Wanderungen" und mit dem Buch "Die Gefahren der Alpen. Erfahrungen und Ratschläge", das 1922 in 6. Auflage erschien, in jungen Jahren bekannt geworden war. Am 6. August 1885 verunglückte er im Alter von 24 Jahren an der Meije tödlich. Sein Bruder Otto Zsigmondy war ebenfalls als Bergsteiger bekannt. Der Mathematiker Karl Zsigmondy wirkte an der Wiener Technischen Hochschule; in seiner Antrittsrede als Rektor am 26. Oktober 1918 beschäftigte er sich grundsätzlich mit dem "Wesen des Zahlenbegriffes und der Mathematik“ und sprach bei dieser Gelegenheit die für einen Rektor einer namhaften Technischen Hochschule besonders denkwürdigen Sätze aus: "Es ist gut, sich manchmal bewußt zu werden, daß der grobe Nützlichkeitsstandpunkt nicht immer der einzige sein muß. Jede Wissenschaft hat Anrecht auf freie Forschung ohne Rücksicht auf Nützlichkeit. Die Lebenswerte sind wahrhaftig die wertvollsten nicht, die sich in klingende Münze umsetzen lassen."
Nach dem vierjährigen Studium in Wien begab sich Zsigmondy zur weiteren Ausbildung in Chemie und Physik auf Wanderschaft, was damals unter jungen Leuten, die sich der Wissenschaft widmen wollten, ganz selbstverständlich war.
Die Tatsache, daß er in keines der damals entstehenden Laboratorien für physikalische Chemie, also weder zu Jacobus Henricus van't Hoff noch zu Wilhelm Ostwald ging, zeigt, daß Zsigmondy zu diesem Zeitpunkt wohl noch keine rechte Vorstellung von seinem späteren wissenschaftlichen Forschungsgebiet hatte.
Im übrigen hielten sich zwei Nachwuchswissenschaftler, die alsbald zu den Größen des Faches physikalische Chemie zählen sollten, Svante Arrhenius und Walther Nernst, gerade in diesem, in physikochemischer Hinsicht überaus denkwürdigen Jahr 1887, in dem der erste Band der "Zeitschrift für physikalische Chemie" erschien, an der Universität Graz zu Studienzwecken bei Ludwig Boltzmann auf.
An der Technischen Hochschule München wurde Zsigmondy 1889 Privatassistent des Organikers Wilhelm von Miller. In dieser Zeit erschien auch eine kleinere selbständige Arbeit über die Fehlerquelle der Stickstoffbestimmung nach Dumas. Am 3. Dezember 1889 wurde er aufgrund seiner Dissertation über die Synthese von Indenabkömmlingen an der Universität Erlangen zum Doktor der Philosophie promoviert.
Die Jahre 1890-1892 verbrachte Zsigmondy als Privatassistent des Physikers August Kundt an der Universität Berlin, wo er zwei Arbeiten über Diäthermanität von Ferrosalzlösungen bzw. von Gläsern, publizierte; letztere war später über die Maßen folgenreich, weil sie den Leiter des glastechnischen Laboratoriums in Jena, Friedrich Otto Schott, auf Zsigmondy aufmerksam machte.
Richard Zsigmondy an der Technik in Graz#
Vorderhand führte Richard Zsigmondys Lebensweg 1892 nach Graz, wo er an der Technischen Hochschule eine Assistentenstelle übernahm. Über die Hintergründe dieses Wechsels ist nichts Näheres bekannt; als eine Variante wäre denkbar, daß der Berliner Chemiker Hans Max Jahn,
der in den achtziger Jahren an der Universität Graz als Privatdozent tätig gewesen war, als Mittelsmann fungiert haben könnte. Schon im Sommer 1892 habilitierte sich Zsigmondy in Graz mit der Schrift "Kryolith und seine Stellvertreter in der Glasindustrie" für chemische Technologie.Das Verfahren wurde außergewöhnlich flott abgewickelt, Kolloquium und Probevortrag fanden an einem Tag, dem 6. Juli 1892, statt. Das Kolloquium verlief zur großen Zufriedenheit der Kommission, im besonderen Albert von Ettingshausens, der feststellte, daß Zsigmondy "nicht allein in den neueren Erzeugnissen der Literatur zu Hause sei, sondern selbst sehr viel gearbeitet habe." Auch der nachfolgende Probevortrag über die Entwicklung der Spiegelglasindustrie und deren Einfluß auf die chemische Industrie beeindruckte die Kommission.
Zsigmondy, der im übrigen zuerst in der Leechgasse 2B, dann in der Rechbauerstraße 18 wohnte, dürfte sich alsbald auch unter seinen Kollegen mit seiner ruhigen, zurückhaltenden und verbindlichen Art große Anerkennung erworben haben, denn im Studienjahr 1894/95 war er Vertreter der Privatdozenten im Professorenkollegium. In der Lehrtätigkeit beschränkte er sich auf sein Spezialgebiet, auf eine einstündige Vorlesung über die Technische Chemie der Silikate und deren Anwendung auf Glas, Tonwaren und Zement.
In Graz begann er - vorderhand wenig beachtet - mit jenen Arbeiten, die ihn später berühmt machen sollten, und zwar mit einer Untersuchung über den Cassius'schen Goldpurpur.
Gold mit Wismutoxyd gab je nach Temperatur entweder die Farben rot oder blau. "Chemische Analogie war also für die Farbe des feinteiligen Goldes nicht bestimmend." Diese Beobachtungen erschienen umso merkwürdiger, "als Verbindungen mit völlig entgegengesetzten Eigenschaften häufig gleichartige Wirkungen auf die Farben des feinst zerteilten (kolloiden) Goldes verursachten. Diese Befunde waren mit den bisherigen Erfahrungen der Chemie nicht in Einklang zu bringen. Demgemäß suchte ich diese Erscheinungen auf einem anderen als dem rein chemischen Wege zu ergründen. ... Diese und mehrere andere Ergebnisse führten mich zur Kolloidchemie."
Von Graz über Jena nach Göttingen#
Nach fünfjähriger Tätigkeit an der Technik in Graz trat Zsigmondy 1897 in das Glastechnische Laboratorium von Schott in Jena ein, wo er während der folgenden drei Jahre erhebliche technische Erfolge, eine Anzahl gefärbter Gläser und das berühmte Jenaer Milchglas, erzielte. Als ein Ergebnis dieser Forschungen meldete er mehrere Patente an. In diesen Jahren machte er ferner mit den in Graz begonnenen theoretischen Arbeiten auf sich aufmerksam, besonders 1898 in Leipzig mit einem Vortrag anläßlich der Hauptversammlung der Deutschen elektrochemischen Gesellschaft. Zsigmondy sprach über die Herstellung des kolloidalen Goldes mit Formaldehyd, über den Farbenumschlag mit Chlornatrium, das kataphoretische Verhalten und die Darstellung des Cassius'schen Goldpurpurs durch Mischen kolloidaler Gold- und Zinnsäurelösungen. Damit hatte er gezeigt, daß dieser Purpur keine chemische Verbindung ist. In weiteren Publikationen wies er die Übereinstimmung von kollodialen Goldlösungen und Goldrubinglas nach.
Im Jahre 1900 gab er seine Stellung auf, verblieb aber bis März 1907 in Jena, setzte seine Kolloidarbeiten fort und veröffentlichte einen Aufsatz über das Verhalten der Goldlösungen gegen Schutzkolloide und die Kennzeichnung der letzteren durch die Goldzahl. Daneben meldete er einige Patente auf gefärbte Gläser an und veröffentlichte eine Abhandlung über die Lichtabsorption solcher Gläser. In dieser Zeit begann er gemeinsam mit dem Physiker und Mitarbeiter der Zeiss-Werke Henry Friedrich Wilhelm Siedentopf mit der Konstruktion eines "Ultramikroskops" und berichtete 1902 darüber erstmals auf der Versammlung der Deutschen elektrochemischen Gesellschaft in Würzburg. In der abschließenden Publikation schrieb Siedentopf über den Apparat und Zsigmondy über die Methode der Größenbestimmung ultramiroksopischer Teilchen durch Auszählung und die Untersuchung der Goldrubingläser, wobei sich herausstellte, daß die Farbe nicht direkt mit der Teilchengröße zusammenhängt. Diese Untersuchung hatte in mehrfacher Hinsicht bedeutende Konsequenzen: zum einen hatte die Kolloidforschung ihr wichtigstes Instrumentarium erhalten, zum anderen war damit nachgewiesen, daß die Brown'sche Bewegung nicht bloß bei mikroskopischen, sondern auch bei viel kleineren Teilchen auftritt. Damit wurde die von Otto Wiener vertretene Auffassung, daß die Brown'sche Bewegung mit der thermischen Molekularbewegung zusammhängt, bestätigt. Als er 1906 den Nachweis erbrachte, daß die Goldteilchen der kolloiden Lösung als Kristallisationskeime auf mit Reduktionsmitteln versetzte Gold- und Silberlösungen wirken könnten, ermöglichte er auch die Größenbestimmung von Teilchen, die auch im Ultramikroskop nicht mehr sichtbar waren.
Im Jahre 1907 zog sich Zsigmondy für wenige Monate auf seinen Besitz in Terlago bei Trient zurück; dort erhielt er den Ruf an die Universität Göttingen. Zu Anfang 1908 trat er die Professur an. Aufgrund der erheblich verbesserten Arbeitsbedingungen begann er zusammen mit seinen Mitarbeitern eine vielfältige Forschungstätigkeit. So erbrachte er etwa wesentliche Kenntnisse zur Frage der Geschwindigkeit der Koagulation durch Elektrolyte, was wiederum den Physiker Maryan von Smoluchowski zur Ausarbeitung einer Theorie der Anziehungskräfte zwischen den entladenen Kolloidteilchen veranlaßte. Gemeinsam mit Erich Hückel befaßte er sich mit der Geschwindigkeit der Bildung von Kolloidlösungen aus Goldlösungen mit Reduktionsmitteln.
Ab 1911 beschäftigte er sich mit der Struktur der Gele und konnte zeigen, daß die bislang angenommene Wabenstruktur der Gele nicht zutreffend war, sondern daß Gele aus Sub- oder Amikronen körnig zusammengesetzt sind. Ferner konnte er mit der Kapillarwirkung dieser äußerst engen Hohlräume die Erscheinungen aufklären, die bei der Wässerung und Entwässerung von Gelen auftreten.
In dieser Zeit entwickelte er Apparate und Arbeitsmethoden weiter, so etwa das Ultramikroskop zum Immersionsultramikroskop, die Dialyse verbesserte er durch den Sterndialysator, die Ultrafiltration durch die Membranfilter und Zellafilter. Er verwies auf die Möglichkeit des Einsatzes von Ultrafiltern in der quantitativen Analyse und bei der Wasserreinigung, wofür er ein Patent anmeldete. Gemeinsam mit G. Jander veröffentlichte er 1920 ein Buch über Technische Gasanalyse.
Der Ausgangspunkt zu diesem Forschungsschwerpunkt kann durchaus auch in seinen Arbeiten an der Technik in Graz gesehen werden. Zur Bekräftigung dieser Beziehung und in Anerkennung seiner besonderen Verdienste wurde Richard Zsigmondy am 5. Oktober 1928 an der Technischen Hochschule in Graz die Würde eines Doktors der technischen Wissenschaften ehrenhalber verliehen.
Literaturhinweise:#
- FLECK, George: Richard Zsigmondy, in: Laylin, K. James (Ed.): Nobel Laureates in Chemistry 1901-1922, American Chemical Society and the Chemical Heritage Foundation 1993, S. 151-157
- FREUNDLICH, H: Richard Zsigmondy (1865-1929), in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 1930, S. 171-175
- GICKLHORN, Josef und Renée: Die österreichischen Nobelpreisträger, Wien 1958, S. 77-82
- KERNBAUER, Alois: Die Institutionalisierung der Physikalischen Chemie in Österreich um die Jahrhundertwende. Mit besonderer Berücksichtigung der Universität Graz, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften 2(1982), S. 75-89
- KERNBAUER, Alois: Das Fach Chemie an der Philosophischen Fakultät der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 17), Graz 1985
- KERNBAUER, Alois: Svante Arrhenius' Beziehungen zu österreichischen Gelehrten. Briefe aus Österreich an Svante Arrhenius (1891-1926) (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 21), Graz 1988
- MEIER, Ernst: Alfred Nobel. Nobelstiftung. Nobelpreise, Berlin 1954
- SMEKAL, Ferdinand G.: Richard Zsigmondy (1865-1929), in: Österreichs Nobelpreisträger, Wien-Stuttgart-Zürich 1961, S. 71-82
- WEGSCHEIDER, Richard: Adolf Zsigmondy, in: Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien, 80(1930), S. 262-268
© Text und Bilder: Josef W. Wohinz
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