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Notiz 012: Tracht und Niedertracht, Teil 1#

(Über Dienstboten der Gewinner. Oder: Wenn Herr Alexander kegelt.)#

von Martin Krusche

Kultur handelt unter anderem davon, daß wir uns auf die Bedeutung von Erzählungen einigen, wie wir uns dafür auch Zeichensysteme zurechtlegen, die in einer bestimmten Gemeinschaft als allgemein verständlich gelten. Dabei kann es leicht zu Situationen kommen, in denen eine abweichende Deutung dieser Erzählungen von der Gemeinschaft bestraft wird. Hier geht es unter anderem um nationale Stereotypisierung, mit der unser Gedächtnis ideologisch codiert wird. Unter Ideologie verstehen wir ein System von Weltanschauungen, von sogenannten Werten, die oft nicht einmal im Detail benannt werden.

Tradition ist ein ideologisches Konzept. Wir haben da schon längst jede Unschuld verloren. (Foto: Martin Krusche)
Tradition ist ein ideologisches Konzept. Wir haben da schon längst jede Unschuld verloren. (Foto: Martin Krusche)

In den letzten Jahren haben wir viel von den „Werten Europas“ oder den „Werten des Abendlandes“ gehört. Wer hat mir da nicht alles vom „christlichen Abendland“ geschwärmt, das ja eigentlich und vor allem ein „griechisches Abendland“ ist?

Die ideologische Codierung unseres Gedächtnisses geschieht zum Beispiel über selektive Geschichtsdeutung und Geschichtsaneignung. Dazu tragen alle Menschen einer Gemeinschaft bei. Das ist also nicht bloß „Profi-Arbeit“.

Doch wer eine Regierung stellt, hat in dieser Frage spezielle Interessen. Ging es in der Feudalzeit noch darum, auf solche Art eine homogene Untertanenmasse herzustellen, dürfen wir uns fragen, was heute der Zweck nationaler Narrative und ihrer Verwaltung sei.

Das heißt, in all dem geht es auch um Deutungshoheit: Wer darf sagen, was es ist? Wer widerspricht? Was soll mit jenen geschehen, die dagegenreden? Das wird nicht bloß auf nationaler Ebene geübt, das wird auch im Privatleben vollzogen. Dieser Text ist von einem kleinen, konkreten Beispiel inspiriert.

Das nützliche Gedächtnis#

Vom Philosophen Walter Benjamin stammt der anregende Gedanke, die jeweils Herrschenden seien Erben aller, die je gesiegt haben. „Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.“ Benjamin war in seinen Überlegungen zum Begriff der Geschichte davon überzeugt: „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter.“

In diese Triumphzüge drängen sich bis heute allerhand Mitläufer, denen die Sache inhaltlich weitgehend egal ist, Hauptsache sie dürfen sich als Gewinner fühlen oder wenigstens Dienstboten der Gewinner sein.

Historiker Moritz Csáky zieht aus seiner Arbeit unter anderem den brisanten Schluß, daß unser Erinnern stets ambivalent sei. Es mag paradox erscheinen, Csáky betont, daß Erinnerung „vornehmlich auf die Zukunft ausgerichtet ist und dass sie, um dieser Zukunft, in der Orientierung möglich sein soll“, dem Gestalt verleihen soll, was vor uns liegt. Die Zukunft, von der wir noch nichts wissen können, will vorab erahnt, entworfen werden.

Das Ringen um Definitionsmacht#

Die aktuellen Nationalratswahlen Österreichs haben der vaterländischen FPÖ einen schmerzlichen Stimmenverlust von rund zehn Prozent eingebracht. Ein markanter politischer Rückschlag für jener Formation, die kürzlich noch große Erfolge damit feierte, Behauptungen vor Wissen zu stellen und Andersdenkende mindestens zu verhöhnen, womöglich auch gleich zu diffamieren.

Die Meister dieses Genres waren bisher im Gespann Herbert Kickl und Hace Strache. Sie und ihre Gefolgsleute zeigten sich jüngst noch am lautesten darin, der Vierten Gewalt im Staat Verlogenheit und politische Machtinteressen zu unterstellen. Im Kielwasser solcher Diffamierungen wurden ganz speziell Frauen in der Publizistik auf teilweise obszöne Art attackiert. Parallel dazu erfahren wir aus den USA, daß Donald Trump Medienleute gerade wieder mit großer Geste als „Staatsfeinde“ beschimpft und ihnen Fake News unterstellt. Er gibt nichts auf Recherche und den Stand einer Debatte. Er pfeift auf Wissen, das als vorläufig gesichert gilt.

Daran ist besonders bemerkenswert, daß er zu einer Formulierung fand, die nun um die Welt ging, die wir in Österreich einst von Jörg Haider gehört haben, aber auch jüngst im österreichischen Wahlkampf. Trump Twitterte: „They are trying to stop ME, because I am fighting for YOU!“ (Quelle) Das korrespondiert mit dem Haider’schen „Sie sind gegen ihn. Weil er für euch ist“. Der Standard notierte dazu: „FPÖ plakatiert Haider-Wahlspruch aus 1994“ … (Quelle) Originelle Ergänzung: „Netz deckt auf: AfD kopiert Haider-Plakat mit Höcke“ (Quelle) Der Thüringer AfD-Chef steht für eine Formation, die sich auch gegen laufende Diskurse und den Stand einer Debatte lieber abschottet, was dazu führt, daß in diesen Kreisen gerne von „Lügenpresse“ gesprochen wird.

Herabwürdigung statt Antwortvielfalt#

Die Methode hat eine klare Funktion. Das Herstellen von Definitionshoheit stützt sich nicht zwingend auf Faktenwissen, sondern kommt auch gut mit bloßer Meinung aus. Wir leben in einer Ära der „gefühlten Tatsachen“. Da stören Fakten nicht bloß, da stören auch Andersdenkende ganz prinzipiell. Diese Ära lebt von Zustimmung, nicht von kritischer Debatte.
In der geistigen Komfortzone geht es um entspanntes Reisen. (Foto: Martin Krusche)
In der geistigen Komfortzone geht es um entspanntes Reisen. (Foto: Martin Krusche)

Es gibt ein altes Bonmot, das gelegentlich wieder kursiert: „Wer nichts weiß, muß alles glauben.“ Das hat seine volkstümliche Entsprechung im schnoddrigen „Glauben heißt nix wissen!“ Andersrum betrachtet mag das so klingen: Wissenserwerb ist Arbeit. Eine Mühe, die vielen Menschen nicht mehr lohnend erscheint. Natürlich haben alle Leute eine Meinung, aber Fakten werden schnell rar. Das ist kein Zufall, sondern drückt die Nutzbarmachung, die Bewirtschaftung von konkreten Verhältnissen aus.

Unsere Leute haben das schon einmal auf staatstragende Art durchgespielt. Die leidenschaftliche Intellektuellenfeindlichkeit der Nationalsozialisten, ihre konsequente Verfolgung unliebsamer Intelligenz, das Verbrennen von Büchern, all diese Feste einer jubelnden Meute, die sich mit Feuer und Schwert gebildeter Menschen entledigt, sind in die Geschichte eingegangen. Victor Klemperer hat diese Niedertracht in seinen Tagebüchern auf bewegende Art dokumentiert und die Sprache des Dritten Reichs in seinem Buch „LTI: Lingua Tertii Imperii“ analysiert.

Trachtlerei#

Anfang Oktober erschien in der Wiener Zeitung unter dem Stichwort „Jüdisch leben“ eine Glosse von Alexia Weiss, die unter dem Titel „Kein Dirndl für mich“ das Münchner Oktoberfest zum Anlaß nahm, auf das Thema „Erfundene Tradition“ zu verweisen (Quelle) Dieser Text wurde auf Facebook mit dem Hinweis „Wichtiger Lesestoff“ hervorgehoben. Diesen Eintrag habe ich kurz kommentiert: „wie schrullig, daß sich bei uns vor allem jene, die sich laut um kultur und identität österreichs sorgen, so bedenkenlos in diese überwiegend substanzlose schale werfen. ideologie zum anziehen :-)

Darauf hat sich Herr Alexander, von Beruf Musiker, in die Debatte geworfen, um mir nachzuweisen, daß meine Ansichten über Herkunft und Bedeutung heutiger Trachten nicht haltbar seien. Unter Verzicht auf sachliche Begründungen seines Einwandes brachte Herr Alexander eine staunenswerte Legitimation seiner Kritik vor: „…für ein Gebirgsmenschenkind das völlig ungeachtet und unvoreingenommen irgendwelcher ideologischer Fäden und Winde gegenüber in einem natürlichen Habitat mit Bauern, Förstern, Schilehrern und Bergsteigern aufgewachsen ist.“

Wer nun rein ideologisch argumentiert, ohne sich des ideologischen Konzeptes seiner Darlegung überhaupt bewußt zu sein, bietet ein besonders interessantes Exemplar vaterländischer Posen. Noch dazu, wo das in einem Wortlaut stattfindet, den wir aus Groschenromanen kennen. Der Pathos dieser Schilderung hat eine simple Funktion. Er soll Glaubwürdigkeit suggerieren. Genau diese Art des pathetischen Raunens, ausstaffiert mit Versatzstücken aus einem Heimatfilm, war übrigens auch in unzähligen Blut und Boden-Machwerken üblicher Standard.

Ich werde das im zweiten Teil dieses Textes genauer darlegen. Wenn Herr Alexander gedanklich Kegeln geht, zeigen sich zwei sehr zeitgemäße Effekte. 1.: Gefühl geht vor Wissen. 2.: Der Andersdenkende wird umgehend mit Spott bedacht, statt einfach festzustellen: „Gut, wir zwei bleiben im Dissens.“ Das hat derzeit, wie eingangs erwähnt, seine politischen Entsprechungen, das hat seine Phänomene im privaten Umgang von Menschen.

Es zeigt sich ungefähr als das Gegenteil dessen, was einst Immanuel Kant im Zuge der Aufklärung empfahl, nämlich mit Mut den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu suchen, indem man sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer bedient. Dieser Kommentar ist Teil der Textsammlung Volkskultur (Beiträge zu einer notwendigen Debatte. Eine kleine Übersicht) des „Kuratorium für triviale Mythen“. (Forsetzung: Teil 2)