Aviatik und Akrobatik#
(Was sich rund um 1909 verdichtet hat)#
von Martin KruscheDie Motorisierung Europas teilte sich den Menschen unter anderem über ein Feuerwerk an Spektakeln mit. Da waren schon allerhand Vorboten im 19. Jahrhundert, weil sich das Safety (das Niederrad) als zukunftsweisendes Konzept des Fahrrades durchgesetzt hatte.
Das stabile Veloziped mit Diamantrahmen, dessen Pedale die Kraft des Menschen per Kette oder Kardanwelle ans Hinterrad lieferten, brachte neue Erfahrungen mit einer individuellen Mobilität unter die Menschen. Und es ließ bestimmte handwerkliche Zweige boomen, die für Automobilismus und Luftfahrt eine erhebliche Bedeutung erlangen sollten.
Sobald kompaktere Benzinmotoren verfügbar waren, wurden diese von Tüftlern an alle nur denkbaren Stellen der Fahrräder geschraubt, um die Gefährte schneller zu machen. Zugleich bewährten sich zarte Voiturettes als Avantgarde einer neuen Welt der pferdelosen Wagen. Diese Wägelchen wurden spätestens ab 1905 von leistungsstärkeren Automobilen abgelöst.
In jenem Jahr begann Österreichs Behörde mit der Ausgabe von Nummerntafeln und verpflichtete die Besitzer von Kraftfahrzeugen, ihre Vehikel zu registrieren. Der einfache Grund: es gab längst eine Flut von Beschwerden, weil die „gaskranken Autler“, Raser, Menschen im „Geschwindigkeitswahn“ (bei einem Tempo von etwa 25 bis 45 km/h) zunehmend mit anderen Verkehrsteilnehmern kollidierten. Die Unfälle und Streitigkeiten nahmen rasant zu.
Mit Motorkraft ging es bald auch in die Lüfte. Radrennen, Luftakrobaten und Fernflieger, Geschwindigkeitsrekorde und Abstürze aller Arten, das bringt mich auf den Aviator Blériot, den Anzani-Motor und ähnliche Motive. Da tun sich markante Querverbindungen auf. Matthias Marschik deutet das Jahr 1909 in seiner „Kulturgeschichte der österreichischen Aviatik“ als Schlüsseljahr der Luftfahrt, auch wenn Österreich-Ungarn eher ein Nachzügler der Flugentwicklung gewesen sei.
Tüftler und Schrauber#
Nach allem, was ich über diese Dinge gelesen habe, meine ich, solche Rückständigkeit ergab sich nicht aus einem allfälligen Mangel an begabten Tüftlern und Schraubern, an inspirierten Ingenieuren und kühnen Testpiloten, die ihre Knochen riskiert haben, um eine Idee voranzubringen. Das alte Österreich hatte davon reichlich. Aber die Obrigkeit verstand es oft, solche Entwicklungen durch Inkompetenz zu bremsen; allen voran Kaiser Franz Josef.Marschik bezeichnet das Fliegen als ein Phänomen der Metropolen, beschreibt schließlich, wie die Flieger sich nach und nach aus den Aerodromen befreiten, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zogen. Ich hab in den alten Publikationen dieses Motiv immer wieder gesehen: Cross Country Flight. Dem gegenüber gab es seinerzeit auch schon das Air Race, bei dem auf einem Flugfeld aufgestellte Masten umflogen wurden.
Aviatik und Akrobatik, Flugzirkus… Marschik meint, Blériots Vorführung, die 1909 auf der Simmeringer Heide stattgefunden hat, könnte nach verschiedenen Schätzungen ein Publikum von bis zu 300.000 Menschen angelockt haben. Die Behörde stellte damals rund tausend Mann an Polizeiwache, darunter 120 berittene Kräfte ab, um die Aufrechterhaltung der Ordnung zu gewährleisten.
Ich erwähne das, weil die Anstrengungen der Zirkus-Familie Renner in jenem Jahr solche Elemente kombiniert haben. Ich meine die mit Graz familiär verbundenen Brüder Alexander und Anatol sowie deren Vater Franz Renner. Wie angedeutet: Artisten. Das war ihr Metier. Ein Spektakel bieten und ein breites Publikum unterhalten, was im Fall des Jahres 1909 mit dem Luftschiff Estaric I realisiert wurde, in dem ein Puch-Motor für Antrieb sorgte. Anatol Renner erzählte mir aber auch von Motorrad-Rennen, die sie genossen haben, erwähnte erhebliche körperliche Strapazen, denen die Renner-Buben sich problemlos gewachsen zeigten. (Seine Cousine, meine Großmutter Marianne, nannte ihn Toli.)
Marschik schildert nicht nur die Flugschau auf der Grazer Herbstmesse von 1909, sondern erwähnt auch, daß die Renner’sche Vorführung in Wien rund 40.000 Menschen angelockt habe. Dort rief sie ihr Kaiser kurz zu sich. Die Luftakrobatik boomte als Unterhaltungsprogramm, weckte überdies quer durch Europa das rege Interesse der Militärs. Man unterschied im neuen Metier bald zwischen Schaufliegen und Arbeitsfliegen. Wettbewerbe und Rekordjagden wurden in der Luft ebenso intensiv gepflegt, wie beim Automobilismus auf dem Boden.
Puch, Blériot, Anzani#
Der Puch-Motor im Renner’schen Estaric I ist bloß einer von mehreren Hinweisen darauf, daß sich Altmeister Johann Puch mit der Fliegerei befaßt hat. Er interessierte sich für Blériots Apparat Nr. 11, mit dem der Franzose den Ärmelkanal überflogen hatte. Das Flugzeug – eine wegweisende Konstruktion - war damals in Wien zu sehen. Puch bestellte ein Exemplar.Heinz Erblich beschrieb dieses populäre Modell von Blériot in „Moderne Flugzeuge in Wort und Bild“ (1916) mit dem Hinweis: „Der Eindecker ist zweifellos stets der eleganteste Flugzeugtyp, da er in seinen Linien dem Vorbilde in der Natur am nächsten kommt.“ Dazu im Detail: „Blériots Apparat Nr. 11 war wieder zierlicher und einfacher; er war mit einem 3-Zylinder-Anzani-Motor von 24 PS ausgerüstet. Mit diesem Typ überflog er am 25. Juli 1909 als erster den Kanal von Calais nach Dover.“
Szenen-Wechsel. In der „Polytechnischen Rundschau“ (Band 325) von 1910 befaßt sich ein Beitrag mit dem Thema „Neue Eindecker“ und erwähnt die Firma E. Rumpler, von der zwei Modelle auf einer Schau präsentiert wurden. (Das verweist auf Edmund Rumpler und Igo Etrich, von denen noch zu reden sein wird.) Da heißt es zu einem der Apparate: „Die Flugmaschine besitzt einen 25-PS Dreizylinder-Anzani-Motor ‚Traversée de la Manche‘ mit direkt auf der Kurbelwelle sitzenden Luftschraube der Firma Basse & Selve.“ (Traversée de la Manche ist die französische Formulierung für Kanalüberquerung, was illustriert, wie jeder Erfolg als Werbemittel eingesetzt wurde.)
Ich entdeckte in meiner Briefmarkensammlung ein jugoslawisches Postwertzeichen, von dem ich annahm, es zeige Blériot und seinen berühmten Eindecker. Die zyrillischen Buchstaben widersprachen dem aber. So kam ich auf Edvard Rusjan, der mit seinem Bruder Josip mehrere Flugzeuge gebaut und erprobt hatte. Eines davon: „One airplane, built according to the Blériot design, made its first flight on June 25, 1910.“ (Quelle) … also rund ein Jahr nach Blériots Kanalüberquerung. Die Rusjans setzten bei ihren Projekten auf Anzani-Motoren.
Das Österreichische Biographische Lexikon sagt über Edvard Rusjan, dessen Spitznamen Eda den Flugzeugen ihre Bezeichnungen gab: „Auf der Flugwoche in Brescia 1909 traf er mit dem französ. Flugzeugmotorenerzeuger Anzani ein Abkommen über Zusammenarbeit und erhielt einen Flugzeugmotor, den er für alle sieben Flugzeuge, genannt Eda I - VII, die er 1909/10 mit seinem Bruder Josip R. baute, verwendete.“ Ich habe in der Ausgabe von September 1910 des Magazins „Aircraft“ ein Inserat der Firma Anzani gefunden, das uns dieses Aggregat zeigt, einen W3-Motor. Der war in fünf Stärken verfügbar, dazu noch weitere Motoren mit vier und fünf Zylindern. (Anzani warb dabei natürlich, wie schon erwähnt, mit Blériots Kanal-Flug.)
Motorenhersteller Anzani#
Dieser französische Betrieb war vom italienischen Motorsportler und Ingenieur Alessandro Anzani gegründet worden. Den W3-Motor hatte er 1906 schon einmal längs in einem Motorrad verbaut. Ich vermute, das war thermisch eher suboptimal. Dagegen gelang mit einem quer an Flugzeugnasen montierten W3-Motor mühelos eine gleichmäßige Kühlung der Zylinder.Anzani, Sohn eines Nähmaschinen-Mechanikers, hatte seine Laufbahn mit mäßigem Erfolg als Radrennfahrer begonnen, fuhr auch als Schrittmacher für andere Radrennfahrer beeindruckende Motorrad-Monster auf Rundkursen. 1902 stieg er in den Motorsport ein.
Alessandro Ambrogio Anzani errang im Jahr 1905 einen Weltrekord auf einer Alcyon mit einem von ihm entwickelten 330cc Buchet-Motor. Im Antwerpener Ortsteil Zurenborg gab es damals ein Velodrom, wo am 13. Juli 1905 ein „Championnat du Monde de moto“ stattfand, das Anzani gewann. Knapp davor, am 25. Juni 1905, holte sich Václav Vondřich auf einem Motorrad der Marke Laurin & Klement den Sieg in einer inoffizielle Motorrad-Weltmeisterschaft, dem Coupe Internationale im französischen Dourdan.
Laurin & Klement war ein (alt-) österreichischer Gigant unter den Produzenten. Von dort kam der Konstrukteur und Rekordfahrer Karl Slevogt zu Puch. Ein üblicher Vorgang. Alle sahen sich überall um. Was sich bewährte, wurde teils kopiert und dann in einzelnen Details individuell verbessert.
Der Sport als Laborsituation#
Wer als Entwickler in der einen Firma Krach bekam, weil etwa Kostenrahmen überzogen wurden, eine Idee nicht umgesetzt werden konnte, was auch immer, ließ sich von anderen Marktgrößen abwerben. Oft war der Rennsport dabei ein Angelpunkt. Slevogt, Ferdinand Porsche, Hans Ledwinka, Ferinand Lanner, Otto Hieronimus, es herrschte ein reges Kommen und Gehen.Erkennen Sie die Muster? Es entfaltete sich Ende des 19. Jahrhunderts. Fahrräder, Nähmaschinen, Grammophone und Schreibmaschinen waren der Anlaß für interessante Betriebskombinationen. Sie hatten ihre Serviceeinrichtungen, ihre Reparaturwerkstätten teilweise in den gleichen Geschäften. Feinmechanik da wie dort.
Manche Handwerker (wie Anzani und Puch) waren erst einmal selbst mäßig erfolgreiche Radrennsportler, lernten aber so das Metier bis in viele Details kennen, wo es um Effizienz und Verbesserungen ging; Werbung nicht zu vergessen. Rennsporterfolge waren wichtige Verkaufsargumente, wurden entsprechend medial gespielt.
Entwickler und Konstrukteure zeigten sich vielfach persönlich im Motorsport aktiv. Der Sport als Laborsituation, bevor es in den Fabriken eigene Versuchsabteilungen gab. Wer mit der Fahrradproduktion Erfolg hatte, reüssierte mitunter auf dem Markt auch mit Motorrädern und Automobilen. Opel, Peugeot, Puch… Die Gebrüder Wright, denen der erste erfolgreiche Motorflug zugeschrieben wird, waren Fahrradproduzenten.
Doch das Geschäft war natürlich hart. Viele gingen unter, wie etwa der Grazer Benedict Albl, aus dessen Betrieb ausgezeichnete Fahrräder kamen. Den Weg in die Automobilbranche überstand diese Fabrik nicht, wovon heute noch der Albl Phönix zeugt, eine Voiturette aus dem Jahr 1902, das älteste fahrbereite Auto der Steiermark.
Volksmotorisierung#
Es läßt sich also sagen, daß im Jahr 1909 die Welt sich anderes zu drehen begann. Steirische Talente waren von Beginn an für technische Innovationen offen. Doch die Mittel und die Rahmenbedingungen bremsten Entwicklungen oft. Hier wurde einer mit der Herstellung von Schrauben steinreich, da fuhr mit dem zweiten fertiggestellten Automobil seinen Betrieb gegen die Wand. Siehe etwa den D&U-Wagen!Die Volksmotorisierung Österreichs und Europas begann erst nach dem zweiten Weltkrieg, Ende der 1950er Jahre. Davor waren vor allem Kauf und Erhalt von Automobilen für die meisten Menschen zu teuer gewesen. Das wird in Graz ab 1957 durch den Steyr-Puch 500, das „Puchschammerl“, ausgedrückt.
Dessen Motor ist von epochaler Qualität, wurde einerseits zu einem wichtigen Triebwerks-Fundament für den Motorsport, kam andrerseits sogar in einigen privaten Flugzeugen zum Einsatz; siehe: „Triebwerk für Motorsegler“!
Außerdem wurde in Graz ab 1954 die „Stangl-Puch“ gebaut, die legendäre Puch MS 50, deren verschiedene Modelle man stellenweise heute noch im Alltagseinsatz sehe kann. Das entsprach einer damals neuen Gesetzeslage, die beim Einhalten zweier Limits erlaubte, ein Kraftfahrzeug ohne Führerschein zu fahren: maximal 50 ccm Hubraum des Motors und maximal 40 km/h Geschwindigkeit. Das ergab eine weiter soziale Revolution über einen Reichweitengewinn in der individuellen Mobilität.
Puch-Mopeds aus Graz wurden in Österreich marktbeherrschend. All das zeigt generell, wie die Steiermark immer wieder erlebte, daß Weltgeschichte in manchen Aspekten die Regionalgeschichte berührt. Handwerk und Technik sorgen dafür noch heute, tief hinein in die Vierte Industrielle Revolution. Da ist von einer Kontinuität über rund 200 Jahre die Rede. Zwei Jahrhunderte permanente technische Revolution.
Das reicht zu jenen Englandreisen zurück, während derer Erzherzog Johann von Österreich technische, wirtschaftliche und soziale Innovationen begutachtete, davon umfangreiche Aufzeichnungen mitbrachte. Siehe in diesem Zusammenhang meine Notizen zu Egon Rudolf, dem letzten Werksdirektor der historischen Puchwerke!
Aviatik und Akrobatik waren auf jeden Fall ein erster bedeutender Rahmen, in dem sich ganz Gesellschaften mit diesen technischen Neuerungen vertraut machen konnten, was Interesse und Schubkraft für die weiteren Entwicklungen in diesen Bereichen erzeugten.
Das hatte freilich auch problematische bis grauenhafte Konsequenzen. Der Große Krieg von 1914 bis 1918 brachte den bis dahin unbekannten Schrecken eines umfassend mechanisierten und motorisierten Völkerschlachtens in die Welt. Faschismus und Holocaust wären ohne motorisierte Verbände zu Lande, zu Wasser und in der Luft wohl nicht zu ihrer grotesken Dimension gekommen.
Heute drängen sich ganz andere Fragen auf, wenn wir darüber nachdenken, ob sich individuelle Mobilität auch weiter auf den massenhaften Privatbesitz von Kraftfahrzeugen stützen kann. Raumplanung, Ökologie und Luftqualität, Ressourcen, aber vor allem auch: was schafft in Zukunft genügend Arbeitsplätze, Broterwerb…
Das sind bloß einige wenige Positionen in einem langen Fragenkatalog. Doch hier soll es nun weiter sehr wesentlich um kulturelle Fragestellungen zu diesem Thema gehen. Ich denke, sie sind ein Schüssel zur Zukunftsfähigkeit. Wenn wir verstehen, wie wurden, was wir sind, kann man sich von vertrauten Mustern wahrscheinlich leichter ablösen, um neuen Möglichkeiten Platz zu bieten.
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