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Historiker Karl Kaser (†)
Historiker Karl Kaser (†)

Grenzen und Überfahrten#

(Wegmarken, der Auftakt zum sechsten Abschnitt)#

Von Martin Krusche#

Manchmal ziehe ich mit einer merkwürdigen Schwermut los, die sich mit Fröhlichkeit verzahnt hat. Das muß nicht dechiffriert, sondern bloß erlebt werden. Als Autor bin ich eine Art Kontext-Junkie. Es geht um Zusammenhänge und Bedeutungen. (Bedeutung ist für mich ein Basismaterial aus dem Korb voller Materia prima.) Daher arbeite ich mit Möglichkeitsräumen und Landkarten der Bedeutung.

Freilich muß das jetzt für Sie sehr kryptisch klingen. Es ist die Intrada einer kleinen Erzählung über den gestrigen Tag, über den 13. April 2022. Dem ging voraus, daß ich mich mit Fotograf Richard Mayr und Musiker Alois „Luigi“ Siegl darüber verständigt hatte, daß wir uns im Grenzgebiet zwischen Österreich, Ungarn und Slowenien nach einigen speziellen Markierungen umsehen werden. Siehe dazu die Notiz „Komplexität und Praxis“ (Status quo April 2022)!

Das Übermurgebiet#

Ich erwähnte dabei das Wort Prekmurje, den slowenischen Begriff für das sogenannte Übermurgebiet. Daß mir dieses Wort, dieses Terrain und deren Zusammenhänge geläufig sind, hat mit zwei Historikern zu tun, die mich Ende der 1980er Jahre zu solchen Themen in ein Geschichts-Projekt einbezogen haben: Karl Kaser und Karl Stocker.

Im Jahr 1990 erschien Kasers Buch „Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft“. Dessen Lektüre wurde für mich der Auftakt im grundlegenden Umbruch meiner Vorstellungen, was der Begriff „Balkan“ bezeichnet und bedeutet. Kaser profilierte sich in den Jahrzehnten danach als jemand von enormem Wissen über diesen Teil Europas.

Von links: Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov, Generalkonsulin Sonja Asanovic-Todorovic & Historiker Karl Kaser bei Mayr*s
Von links: Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov, Generalkonsulin Sonja Asanovic-Todorovic & Historiker Karl Kaser bei Mayr*s
Bild 'karl_kaser'

Damit fand ich auch eine Basis, den Großen Krieg und seine Konsequenzen besser zu verstehen, die Grenzziehungen und deren Wirkung zu beachten. Es hat ferner meinen Blick auf den Untergang Jugoslawiens akzentuiert und einen speziellen Wissensdurst entfacht, der bis heute wirkt.

Ich erinnere mich gerade nicht an die Quelle der anregenden Feststellungen, auf dem Balkan gebe es für den vorhandenen Raum einfach zu viel Geschichte.

Ich hab das auf meinen Reisen und Begegnungen bestätigt gefunden. Für mich ist der Balkan ohne Zweifel eine Wiege Europas, so gewichtig wie Spaniens al-Andalus. Ich erzähle das derart ausführlich, weil ich mit Mayr und Siegl am 5. April 2022 vereinbart hatte, daß wir diese Auftakt-Tour im Dreiländereck gemeinsam machen, um in der Befassung mit dem Thema Wegmarken einen nächsten Abschnitt zu eröffnen.

Berühungspunkte#

Unsere Ausfahrt hatten wir für den 13. April festgelegt. Am Tag davor erreichte mich die Nachricht: Karl Kaser ist am 11. April im Alter von 68 Jahren in Piran verstorben. Eine Bruchstelle. Die Gespräche mit Kaser und die Lektüre seiner weiteren Bücher waren für mich grundlegende Impulse, um meine Ansichten von Südosteuropa zu verfeinern, zumal meine Familiengeschichte damit auch eng verwoben ist.
Luigi Siegl (links) und Richard Mayr
Luigi Siegl (links) und Richard Mayr

Dazu kommt eine kuriose Schnittstelle mit Richard Mayr. Für Mittwoch, den 14. Mai 2008, war zu notieren gewesen: Der offizielle Gleisdorfer Auftakt des Kunstprojektes „next code: exit“, ein aktueller Beitrag zum Festival „steirischer herbst“ 2008.

Für jenen Auftakt hatte ich eine erfreuliche Zusage: „Balkan heute“, ein Vortrag von Prof. Dr. Karl Kaser (Abteilung für Südosteuropäische Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz). Das fand in den Geschäftsräumen eines von Mayrs Gleisdorfer Betrieben statt: „Mayr’s Tee & Design“. Dazu der spezielle Akzent: Einleitung durch die Generalkonsulin Serbiens, Mag. Sonja Asanovic-Todorovic. So mag für Sie nachvollziehbar sein, wie merkwürdig ich es finden mußte, daß diese Ereignisse – Kasers Tod und unsere Ausfahrt – in diesem kleinen Zeitfenster zusammenkommen, da wir von einem Grenzstein aus den Tagen der Maria Theresia ausgingen, um die Fahrt nahe Bonisdorf bei jenem Grenzstein abzuschließen, der ausdrücklich an den 10. September 1919 und den Friedensvertrag von Saint Germain erinnert.

Unterwegs hatten wir auch beim Zöllnerkreuz und bei der St. Emmerichskirche vorbeigeschaut. Dort sind Stacheldrahtstücke und eine Kombizange vom Durchtrennen des Eisernen Vorhangs aufbewahrt.

So haben wir also an jenem Tag einige Grenzen überschritten, um zurückzukehren, während Karl Kaser seine letzte Grenze überquert hat. Vielleicht war ihm dabei, wie es den Menschen im antiken Noricum vertraut gewesen ist, auf dieser Reise Ikarus als Seelenbegleiter zur Seite gewesen.

Weiterführend#


  • Alle Fotos: Martin Krusche

Bild '10september1919'