Ritual#
Etymologisch leitet sich Ritual vom lateinischen ritus ab. Das Wort bezeichnete Brauch im Sinne eines präzise geformten und tradierten Verhaltensmusters und zugleich das, was in Gebrauch war. Das ursprünglich religiöse Werte- und Ordnungssystem vermittelte Respekt vor den Regeln sozialen Zusammenlebens. Rituale als feierliche Bestätigungen des gesellschaftlichen Konsens beschworen die Gemeinschaft (communitas). Im Ablauf von Bräuchen findet sich eine Reihe ritualisierter Handlungen, die in bestimmter Weise aufeinander folgen, z.B. Tänze, Festreden, Gebete, Predigten, Sprüche, Lieder, Wettkämpfe, Umzüge, Heischen, Spenden, Essen, Trinken … Üblicherweise herrscht die Vorstellung von Ritualen als wiederkehrender Ausdruck immer gleicher Elemente. Dem gegenüber steht eine neuere Definition, welche die Dynamik von Ritualen, besonders im Diskurs gegenwärtiger Religiosität, betont.
Im Frühmittelalter war die Religion von der Sehnsucht nach der Gnade Gottes bestimmt. Folge und Ausdruck dieses Bestrebens war die Formstrenge der Rituale. Der rechte Ritus versprach die Gewissheit, von Gott angenommen zu werden und mitten in einer bedrohlichen Welt in der Kirche Heimat und Seelenfrieden zu finden. Die Furcht, Gott durch einen Fehler im Ritual zu beleidigen, war allgegenwärtig. Die Richtigkeit des Liturgievollzugs sollte Erhörung und Gnade garantieren. Je stärker die Religion subjektiv und ethisch wurde, desto mehr verzichtete sie auf Ritualismus.
Heute hört man oft von Ritualen, wo früher von Festen oder Feiern die Rede war. Man meint damit Gemeinsames und ganz Persönliches (Rituale kann man für sich allein vollziehen), Altes und Neues, symbolische Gebärden und Handlungsvollzüge, Zeremonien und Alltagsgewohnheiten. "Ritus = Set von überlieferten oder neu entwickelten Verhaltensregeln", definiert die Familientherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin. Um die Jahrtausendwende entstand der Berufsstand der Ritualdesigner. Sie gestalten in Absprache mit ihren Kunden individuelle Lebenszyklus- und Übergangsrituale. Freie Theologen bieten kirchenunabhängige Zeremonien für Hochzeiten und Verabschiedungen an. BeraterInnen aus der Esoterikszene offerieren z. B. Heilungsrituale im Internet. Sie wollen, dass Rituale erleb- und spürbar sind. Rituelle Angebote werden in einer speziellen Seminar- und Workshopkultur, über Bücher und neue Medien vermittelt. Es sollen, meist in bewusster Abkehr von christlichen Zeremonien, individuell stimmige Rituale geschaffen werden. Besonders wichtig erscheinen der Wohlfühlfaktor und Emotionen. In einer Art Patchwork werden bekannte Elemente neu kombiniert, transferiert, transformiert, adaptiert und adoptiert. Forscher sprechen von der Komposition von Ritualen, die offen für Improvisationen sind. So entsteht eine Mixtur verschiedenster Elemente - Gesten, Handlungssequenzen, Texte … - wobei die Konstruktion mit den Akteuren diskutiert und reflektiert wird. Aktuelle Geschmäcker und Moden spiegeln sich in den Kompositionen ebenso wider, wie Bedürfnisse, sich abzugrenzen und Neues einzuführen. Rituale werden zunehmend flexibel und hybrid.
Das Rituale ist ein liturgischer Buchtyp, der seit dem 12. Jahrhundert entstand. Das Rituale Romanum, erschien 1614 im Auftrag des Tridentinischen Konzils (1545-1563). Es enthält 18 Segnungen, die der Priester vollziehen kann und zehn weitere, die dem Bischof oder seinem Bevollmächtigten vorbehalten sind. Weiters enthält es Exorzismen, Anweisungen für die Feier der Sakramente und Prozessionen. Da die normalen Ausgaben ziemlich groß waren, gab es auch handliche Auswahlausgaben für einzelne Diözesen, die inhaltlich davon abweichen konnten.
Quellen:
Der Große Duden, Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim 1963. S. 571
Protokolle zur Liturgie (Hg. Rudolf Pacik und Andreas Redtenbacher) Würzburg 2008. Bd. 2/S. 123, 154 f.
Janina Karolewski u.a.: Ritualdesign, Bielefeld 2012
Nadja Miczek: Biographie, Ritual und Medien. Bielefeld 2013
Rosmarie Welter-Enderlin: Wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht. Freiburg/Br. 1999. S. 188
Gottesdienst und Ritual, publiziert 19.2.2011
Bild:
Die Firmung war ein wichtiges Initiationsritual für junge Erwachsene. "Andenken an die hl. Firmung". Kleines Andachtsbild, 19. Jahrhundert. Gemeinfrei