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Die kranke Mutter#

Der 6. Juni ist der internationale Tag der Ozeane - das Ökosystem Meer ist heute gefährdeter denn je zuvor.#


Von der Wiener Zeitung (Dienstag, 6. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Edwin Baumgartner


Ozean
Foto: © fotolia/robertharding

Als Jurij Gagarin an jenem 12. April 1961, mit dem das Zeitalter der bemannten Raumfahrt begann, aus dem Fenster seiner Wostok-1-Kapsel sah, erblickte er die Erde als blauen Planeten. Das Meer ist der allbestimmende Faktor der Erde, es ist die Mutter allen Lebens, es ist der Motor allen Lebens. Der 6. Juni ist der internationale Tag der Ozeane. Das ist kein Umweltschutz-Tag wie viele andere. Denn obwohl beispielsweise eine Welt mit Walen schöner ist als eine Welt ohne Wale, kann eine Welt ohne Wale eine Leben tragende Welt sein. Eine Welt ohne Meer aber oder eine Welt mit einem toten Meer ist eine tote Welt.

Wo Meer ist, ist Leben#

Die Griechen der Antike nützten das Meer als Handelsweg. Vielleicht aber ahnten sie dunkel seine wahre Bedeutung, denn Okeanos, der Gott des die Erde umströmenden Wassers, ist laut Homer der Vater aller Götter, der Ursprung der Meere, Flüsse, Quellen und Brunnen. Seine Frau Tethys ist die Göttin der Meere.

"Meer, mit deiner lebendigen Salzflut, mit deinen ungeschaufelten, doch stets bereiten Gräbern; / Heulendes, sturmtosendes, wetterwendisches und liebliches Meer; / Du und ich, wir sind eins", dichtete der Amerikaner Walt Whitman in der visionären Erkenntnis, dass die Ozeane Quell allen Lebens und Spiegel allen Lebens sind, und ein Sprichwort aus dem Jemen weiß: "Die See ist das Leben und der Tod."

Wohl seit es Menschen gibt, haben sie den Kampf mit der See ausgefochten: als Fischer, auf Frachtschiffen, auf Entdeckungsfahrten. Wer das Meer und seine Handelswege beherrscht, beherrscht die Welt. Die Seewege sind die Straßen, auf denen die Schiffe uns Energie und die Güter unseres Wohlstands heranschaffen. Bis heute ist das Meer ungezähmt. Schneller mag die Seefahrt geworden sein, sicherer wohl auch, gefahrlos ist sie nicht. Und sinken heute auch weniger Schiffe, so greift das Meer doch immer wieder nach ihnen mit der Kraft seiner Wogen und den Monsterwellen, die sich bis zu 26 Meter hoch auftürmen. "Navigare necesse est, vivere non est necesse", sagte der römische Feldherr Gnaeus Pompeius Magnus: "Seefahrt ist notwendig, Leben nicht."

Kaum erforscht ist diese Mutter allen Lebens. Zu zwei Drittel bedeckt das Meer den Planeten. 4000 Meter ist seine durchschnittliche Tiefe. Etwa 230.000 Lebensarten kennt man in den Ozeanen. Doch immer noch gilt, dass wir über die Oberfläche des Mondes mehr wissen als über die Tiefsee. Sie beginnt der Definition nach bei einer Wassertiefe von 200 Meter, denn nur bis hierher dringt das Licht der Sonne. Damit gehören 88 Prozent des Ozeans der Tiefsee an.

Nach menschlichem Ermessen müsste sie einer der lebensfeindlichsten Orte des Planeten sein: ohne Licht, daher ohne pflanzliches Leben, mit zunehmender Tiefe immer höherem Druck und zunehmender Kälte von etwa minus ein bis plus vier Grad.

Doch wo Meer ist, ist Leben - auch hier: Räuber und Aasfresser gehen Symbiosen mit Bakterien ein. Sogar im Umfeld der vulkanisch heißen "schwarzen Raucher", hydrothermalen Quellen, die Wasser von einer Temperatur bis über 460 Grad Celsius ausstoßen, existiert Leben. Die wenigen Expeditionen, die sich mit Tauchrobotern in diese Tiefen wagen, stoßen nahezu unweigerlich auf neue Lebensformen. Selbst Meeresbiologen gelingt es nicht, alle Zusammenhänge zu erklären.

Unsere Zeit jedoch betreibt Raubbau am Meer. Wir sind drauf und dran, das größte Ökosystem des Planeten aus der Balance zu bringen, in die Aorta des irdischen Lebens zu schneiden.

Die Meldungen sind alarmierend: Die Meere sind nicht nur überfischt, die meist verwendeten Grundschleppnetze verwandeln die Meeresböden in Unterwasserwüsten. Die Einleitung von düngemittelgesättigten Abwässern in die Meere wiederum führt zu einer abnormen Algenwucherung, unter der das Meer erstickt. Dazu kommt die Massentötung der Haie, teils aus kulinarischen Gründen, teils um den verleumdeten Boten aus einer Zeit, da die Erde viel jünger war, auszurotten. Das bedroht das Korrektiv des Meeres: Stirbt ein Großteil der Haie aus, kippt das Ökosystem. Das ist obendrein durch die Versauerung gefährdet, denn das Meer nimmt CO2 auf, das durch Überindustrialisierung und exzessive Waldrodungen in überreichem Maß in die Luft gelangt.

Als unmittelbarste Gefahr für die Gesundheit der Meere und seiner Bewohner wurde indessen der Plastikmüll ausgemacht. Einer Untersuchung zufolge sind allein im Jahr 2010 etwa 8 Millionen Tonnen in die Ozeane gelangt. Einer Veröffentlichung des deutschen Umweltbundesamts zufolge befanden sich im Jahr 2013 bis zu 150 Millionen Tonnen Abfälle in den Meeren, 60 Prozent davon entfallen auf Plastik.

Die Plastikteile werden im Meer zu kleinen Partikeln zerrieben. Meerestiere halten diese Teilchen für Nahrung, können sie allerdings weder verdauen noch ausscheiden. Sie verhungern bei gefülltem Magen. Im geschwächten Zustand werden sie zur Beute größerer Räuber, die den Plastikanteil ebenfalls nicht verdauen können - und schon ist der Müll in der Nahrungskette. An deren Ende steht kein Wasserbewohner, sondern ein haarloser Affe namens Mensch. Der "Great Pacific Garbage Patch", ein gewaltiger Müllstrudel im Pazifik, erstreckt sich über 700.000 Quadratkilometer. An einigen Küsten bildet angeschwemmter Plastikmüll mittlerweile eine neue Gesteinsform - allerdings eine, die bei Erosion neue Gefahren für Meeres- und Küstenlebewesen darstellt und somit in letzter Konsequenz ebenfalls wieder für den Menschen nachteilig ist.

Derzeit werden Möglichkeiten einer marinen Müllsammlung getestet. So will der 22-jährige niederländische Unternehmer Boyan Slat mit einem schwimmenden Filter die Meeresoberfläche säubern. Tests verliefen erfolgreich. Der norddeutsche Vereins "One Earth - One Ocean" wiederum will mit der "Seekuh" auf Fahrt gehen: Zwischen den beiden Rümpfen des Katamarans sind Netze angebracht, in deren Maschen der Müll hängen bleibt - Fische indessen können durch Lücken entkommen. Bis zu zwei Tonnen Abfall pro Fahrt können eingefangen werden. Eine Verwertung des Mülls durch Fabrikschiffe ist denkbar.

Gleichgewicht in Gefahr#

Der Nachteil beider Systeme ist, dass sie nur den Müll an der Meeresoberfläche bekämpfen können. Das sind etwa 15 Prozent des Mülls. 15 weitere Prozent werden an die Strände gespült - und 70 Prozent sinken in Tiefen, die kein Mensch je säubern kann. Müll, der ins Meer gelangt, bleibt dort - trotz aller gut gemeinten umweltschützerischen Kosmetik.

Umso mehr soll der heutige Welttag der Ozeane uns allen ein Tag des Innehaltens und Nachdenkens sein - auch darüber, ob und was ein Einzelner beitragen kann, um das Meer nicht weiter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Denn wenn es ums Meer geht, geht es nicht um das Meer allein. Es geht um das Leben selbst.

Wiener Zeitung, Montag, 22. Mai 2017

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