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"Erkühne dich, weise zu sein"#

"Wissen ist Macht" - Die Befreiung des neuzeitlichen Menschen aus den Fesseln der Tradition gelang nur mit Hilfe von Wissen und individueller Bildung.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 18./19. Jänner 2014)

Von

Wolfgang Häusler


Titelbild eines populären Bildungshandbuchs, 1922
Titelbild eines populären Bildungshandbuchs, das 1922 von Wilhelm Goltz herausgegeben wurde.
© Wiener Zeitung

"For knowledge itself is power" - so lautet die erste, englische Fassung dieses Leitworts der Moderne in 1598 erschienenen Essays des Juristen, Staatsmanns und Philosophen Francis Bacon (1561-1626), des "wahren Stammvaters des englischen Materialismus und aller europäischen Wissenschaft" (Karl Marx). Die lateinisch gefasste Gleichung von scientia und potestas floss dann 1620 in das "Novum organon scientiarum" ein, das Programm der empirischen Naturwissenschaft und zugleich Vision kommender Technologie mit utopischen Zügen. Der Zeitgenosse des elisabethanischen Zeitalters, da England zur meerbeherrschenden Großmacht aufstieg und zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals ansetzte, konnte nach manchen Wechselfällen seine Karriere unter Jakob I. als Baron Verulam, Viscount of St. Albans und Großsiegelbewahrer des Königreichs krönen. Beherrschung der Natur durch Wissenschaft war die Parole dieses Zeitgenossen von Kepler und Galilei, Descartes und Spinoza. Er zählt zu jenen Riesen, auf deren Schultern alle künftige Naturforschung stand.

Parallel zu Bacons Forderung der exakten Beobachtung der Natur entdeckte William Harvey den Blutkreislauf bei Mensch und Tier, erforschte William Gilbert die Wirkungen des Magnetismus, ausstrahlend zu Pascal, Guericke und Newton. In dieser Aufbruchszeit wollte man in Bacon sogar einen Ghostwriter der Shakespeare-Dramen sehen! Tragikomisch war sein Ende: Bacon zog sich beim einzigen bekannten Experiment, das er persönlich durchführte - das Füllen von geschlachteten Hühnern mit Eis zum Zweck der Konservierung - eine tödliche Erkältung zu. Immerhin war diese Vorwegnahme des Kühlschrankes gelungen.

In praktischer Anwendung von Bacons Formel von Wissen und Macht beschritt England den Weg zu Aufklärung und Liberalismus (John Locke) und zur technisch-industriellen Revolution. Das Bürgertum griff nach der Macht. Die Bahn zur "glorreichen", "großen" - englischen, atlantischen, französischen - Revolution der Moderne war frei.

Joseph Meyers Lexikon#

Im politisch zersplitterten Deutschland war es ein Selfmademan aus dem Bannkreis der kleinen sächsischen Residenzen, Joseph Meyer, der mit dem Motto "Bildung macht frei!" diesen Weg wies. Meyer (1796-1856), Sohn eines schon einen Manufakturbetrieb führenden Schustermeisters, wurde des Gymnasiums verwiesen, tat sich in London als Kaufmann um und machte Bankrott; seine Schrift "Über Papiergeld" (1824) nutzte Goethe für die Szenen des mephistophelischen Geldschwindels zu Beginn von "Faust II".

Mit der Gründung des Bibliographischen Instituts in Gotha 1826 (1828 nach Hildburghausen, 1874 nach Leipzig verlegt) revolutionierte Meyer, in fruchtbarer Konkurrenz mit Brockhaus, die deutsche Verlagslandschaft. Auf den Titelseiten von Meyer’s Groschen-Bibliothek der deutschen Classiker für alle Stände ist zu lesen: "Bildung macht frei!" - 1826ff. in 150, 1848/53 in 365 Bändchen, lange vor Reclam’s Universal-Bibliothek (1867ff.), zu dem im Titel genannten Groschen-Preis, mit Schwerpunkt auf lebenden, meist demokratisch-oppositionellen Autoren.

Eine hochgebildete, bürgerliche Runde des 18. Jahrhunderts
Eine hochgebildete, bürgerliche Runde des 18. Jahrhunderts in der idealisierten Darstellung des 19.: "Kant und seine Tischgenossen", Gemälde von Emilö Dörstling, 1893.
© Abb.: Wikimedia Commons

Dem deutschen Bildungs- (und Besitz-)Bürgertum gab Meyer das 52bändige "Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände", für das 120 Autoren fronten, an die Hand. So erfolgreich Meyer als Verlagsbuchhändler war, scheiterte doch sein Versuch, als Montanist im Eisenbahnzeitalter Fuß zu fassen; als typischer ,48er‘ geriet er zudem zwischen die Fronten der bürgerlich-demokratischen Revolution. Sein Credo blieb aufrecht: "Bildet das Volk, um das Vaterland zu retten, und mit demselben rettet ihr die Freiheit" So stand es 1855 in "Meyer’s Universum" geschrieben. Meyers herausfordernde Devise weist in protestantischer Bildungstradition zurück auf das Wort Jesu (Johannes 8, 32); "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."

Wahrheit und Arbeit#

Das Wort steht zudem in merkwürdiger Parallele zur Parole "Arbeit macht frei", die durch ihren schändlichen Missbrauch als Torinschrift der NS-Konzentrationslager in Verruf geraten ist. Ihr Urheber war der Publizist Heinrich Beta (Bettziech) in seiner Schrift "Geld und Geist" (1845). Bettziech war Junghegelianer. Hegel, Bewunderer der Französischen Revolution und Napoleons und preußischer Staatsphilosoph in einer Person, brachte die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien der Philosophie des Rechts auf den Punkt: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."

Heinrich Heine nahm für sich in Anspruch, das "Schulgeheimnis der deutschen Philosophie" als revolutionäres Prinzip ausgeplaudert zu haben, und der russische Demokrat Alexander Herzen entdeckte in Hegels Philosophie gar die "Algebra der Revolution". Es ging um viel: Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Sein, Anspruch des Bürgertums auf seine Verwirklichung in Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Politik, in der Dialektik von Freiheit und historischer Notwendigkeit. All dies meint und bedeutet Bildung im revolutionären Prozess.

Zum anderen freilich hat Friedrich Nietzsche "unzeitgemäß" auf seine "Vaterschaft" der kritischen Wortprägung "Bildungsphilister" gepocht.

"Sapere aude, incipe!" Diesen Imperativ aus den Episteln des Horaz übersetzte Immanuel Kant 1784 in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? : "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" - weitergedacht im emanzipatorischen Postulat der Befreiung aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit" und des "Prinzips einer allgemeinen Gesetzgebung" des Kategorischen Imperativs.

Im selben Sinn formulierte Schiller "Erkühne dich, weise zu sein" und erweiterte Kants Vernunftprinzip zur "ästhetischen Erziehung des Menschen" (1794). Vorangegangen waren Lessings und Herders Aufrufe zur Erziehung des Menschengeschlechts, in der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, die Rousseau im Erziehungsroman "Émile" erkannte - "Rousseau, der aus Christen Menschen wirbt" (Schiller), dessen Grab Joseph II. aufsuchte und dessen Schüler Robespierre und Napoleon hießen. Die Widersprüche in Rousseaus "naturgemäßem" Erziehungsprogramm, das auf den "Contrat social" des souveränen Volkes ausgerichtet wurde, blieben der Verheißung der bürgerlichen Revolution, der Freiheit und Gleichheit, überhöht von "Pursuit of Happiness", in beiden Hemisphären aufgegeben.

"Homo sapiens"#

Das horazische "Sapere aude" ging selbst in die systematische Naturgeschichte ein: Linnés binäres "Systema naturae" setzte in der 10. Auflage (1758) Homo sapiens als Natur und Geistwesen an die Spitze der Primaten und der Schöpfung. Die Frage nach der Stammesgeschichte des Menschen in Anthropologie und Prähistorie, zuletzt methodisch revolutioniert durch die Genetik, bleibt offen, in der Herkunfts- und Verwandtschaftsfrage von Homo sapiens (sapiens) und Homo (sapiens) neanderthalensis - und in den oft ideologischen, kontroversen Debatten zwischen Kreationisten und (Neo-)Darwinisten.

Im "Manifest der Kommunistischen Partei", das die "Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie" als Vollendung der bürgerlichen Revolution fordert, steht der Satz: "Die Bildung, deren Verlust er (der Bourgeois) bedauert, ist für die enorme Mehrzahl die Heranbildung zur Maschine", dem das Programm entgegengestellt wird: "Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder, Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form, Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw., usw."

Marx führte dies in den "Vorschlägen für das Programm der Internationalen Arbeiter-Association" (1866) weiter aus: "Geistige Erziehung, körperliche Übung und polytechnische Ausbildung wird die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie erheben." 1872 formulierte Wilhelm Liebknecht das Schlagwort Bacons unter dem Primat sozialdemokratischer Politik neu: "Wissen ist Macht - Macht ist Wissen." Gemeint war die Bildung des Proletariats zur Klasse.

In Wien hatte im Revolutionsjahr 1848 der Erste Allgemeine Arbeiterverein die "Förderung der Bildung durch eine Bibliothek" in seinem Programm. Es sollte bis zum Neubeginn des Gumpendorfer Arbeiterbildungsvereins am 8. Dezember 1867 fast zwanzig Jahre dauern. Seine Mitglieder wurden nach Kundgebungen für das allgemeine Wahlrecht in einen Hochverratsprozess hineingezogen, der Verein als "staatsgefährlich" verboten.

Die Arbeiterbewegung#

Das Lied der Arbeit (1867, Text Josef Zapf, Melodie Josef Scheu) begleitet in Form eines Lehrgedichts, in Anknüpfung an bürgerliche Bildungstraditionen, die Sozialdemokratie bis heute: "Und wie einst Galilei rief, / Als rings die Welt im Irrtum schlief: / Und sie bewegt sich doch! / So ruft: Die Arbeit, sie erhält, / Die Arbeit, sie bewegt die Welt! / Die Arbeit hoch! / Die Arbeit hoch!" Schon Jakob Audorfs "Arbeiter-Marseillaise" der deutschen Lassalleaner hatte 1864 dem "Unverstand der Massen" den Kampf mit "Geistes Schwert" angesagt, und Max Kegels "Socialisten-Marsch", 1891 aus Anlass des Gothaer Programms gedichtet, fasste zusammen: "Der Erde Glück, der Sonne Pracht, / Des Geistes Licht, des Wissens Macht, / Dem ganzen Volke sei’s gegeben, / Das ist das Ziel, das wir erstreben."

Friedrich Engels sah in der "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in der Erkenntnis der Gesetze der Natur und der Gesellschaft den "Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" ("Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", 1877). Maria Theresias berühmte Aktenrandnotiz anerkannte die Aufgabe des Staates, für ein allgemeines Schulwesen zu sorgen - ,Politik‘ und ,Policey‘ als öffentliche Verwaltung! - und hatte trotz historischer Verspätung der Thunschen Gymnasial- und Universitätsreform und des Reichsvolksschulgesetzes, die Einschulung von Untertanen zu Staatsbürgern zur Folge. (Siehe Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867.) "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" im Stiegenhaus des Neuen Institutsgebäudes ist ein mahnender Nachhall dieser liberalen, sich zur Demokratie öffnenden Epoche. Es ist, das sollten wir nicht vergessen, formell in Kraft.

In den gegenwärtigen, über Budgetlöcher holpernden und stolpernden parteipolitischen Querelen scheint kein Platz für einen ernsthaften Bildungsdiskurs zu sein. Ratlosigkeit zeigt sich schon in den changierenden Ressortbenennungen und -gliederungen im Schul- und Bildungswesen der vergangenen Jahrzehnte: Unterricht, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Forschung, Sport sollen da von Integration, Jugend, gar Zukunft überhöht werden - doch immer häufiger werden die Reformprobleme der Bildungspolitik mit negativen Begriffen konnotiert: Bildungslücken, -gefälle, -krise, -misere, -notstand, -katastrophe. . . Theodor W. Adornos "Theorie der Halbbildung" (1959) ergänzte Konrad Paul Liessmann 2006 mit einer "Theorie der Unbildung".

Hier und da flackert als Hoffnungszeichen Erinnerung an die emanzipatorische Funktion von Bildung auf - in der Form des Protests. Aus dem Jahr 2009 erinnere ich mich der Demonstrationstransparente der Studenten mit Kants kluger Botschaft: "Bildung ist die Voraussetzung einer mündigen Gesellschaft", oder am 5. Dezember 2013 in Salzburg gemeinsam von Schülern und Lehrern, schlicht und ergreifend, gezeigt: "Gute Bildung, schönes Leben sollte es für alle geben". Da ich dies schreibe, sind die österreichischen Universitäten schwarz beflaggt, und auf das Pflaster vor der Wiener Universitätsrampe ist die Parole "für die Freiheit der Wissenschaft" gemalt.

Wissen als Ware#

In einer Zeit, da (zumeist unnützes) Wissen in der Öffentlichkeit von Grimassen schneidenden Quiz- und Millionenshow-Talkmastern vorgeführt wird, ist es schwer gegenzuhalten. Einmal mehr ist der PISA-Schock schlecht und recht überstanden. In der Auflösung der oft kryptischen Abkürzungen ist vielleicht die vom scheidenden, ausgegliederten Wissenschaftsminister Töchterle vermisste "Erklärung" für die Liquidierung seines Ressorts zu finden: Das Programm für "International Student Assessment" soll im Auftrag der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) "die Politik beraten", wie das "Humankapital" am besten zu verwerten sei - Wissen und (Aus)Bildung werden so als Ware des Arbeitsmarkts definiert! Schüler und Studenten als Rekruten des Prekariats (vgl. auch das grässliche deutsche Kürzel ,Azubi‘ für Auszubildende!) erfahren dieses Faktum täglich in der Jagd nach Zeugnisnoten, Zentralmatura und ECTS-Punkten (European Credit Transfer System). In merkwürdiger Parallele zu ,Finanztransaktionen‘, deren Besteuerung so gar nicht gelingen will, wird hier Klartext gesprochen.

Nicht Flucht in die Vergangenheit, sondern Suche nach den Wurzeln von Erziehung und Schule tut not. Dieser Radikalismus des Ursprungs leuchtet auf mit dem "Orbis sensualium pictus" (seit 1658 vielfach aufgelegt bis ins 19. Jahrhundert) des großen Pädagogen Jan Amos Comenius (Komenský) aus der Unität der Mährischen Brüder, der sein Leben 1670 als Exulant in Amsterdam beschloss. In "Lateinischer / Deutscher / Ungrischer und Böhmischer Benamung" führt dieses erste kindgerechte Lehrbuch in Wort und Bild durch Welt und Leben, ein humanistisches Bekenntnis zu Toleranz und Gleichwertigkeit aller Menschen. Das ist wohltuend gegenüber dem gegenwärtig so verbreiteten herablassenden Gerede von "nichtdeutscher Muttersprache", "Migrationshintergrund" und dadurch definierter "bildungsferner Schichten".

Lernen und Lehren#

Goethe, dessen Leben und Werk sich dem Verständnis nur als permanenter, niemals abgeschlossener Bildungsprozess ("strebendes Bemühen" als Sinn von Studium!) erschließen, setzt zum Ende von Fausts Weg durch die Welt, ihren Höllen und Himmeln, den Satz der Seligen Knaben: "Doch dieser hat gelernt / Er wird uns lehren."

Das bedeutungsschwere Wort zielt auf die Einheit von Lehrenden und Lernenden, den Grundgedanken der von Wilhelm von Humboldt erneuerten Universitas litterarum, mehr noch: die Erziehung des Erziehers.

Diesen Grundsatz lebte der polnische Pädagoge und Arzt Janusz Korczak (Henryk Goldszmit, 1878-1942): "Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur, indem er es liest, reift er." Korczak ging mit den ihm anvertrauten jüdischen Waisenkindern in die Gaskammer des Vernichtungslagers Treblinka...

Wolfgang Häusler, geboren 1946, ist emeritierter ordentlicher Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 18./19. Jänner 2014


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