Wir brauchen Lehrer und kriegen Laptops #
Unterricht im Park? Vokabellernen beim Waldspaziergang? Schön wär’s. Viel eher kommt auf Schülerinnen und Schüler eine Digitalisierungswelle zu. Über Visionen und Realitäten im Schulalltag. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (24. September 2020)
Von
Georg Cavallar
Während des Lockdowns im Frühjahr wagte der Zukunfts- und Trendforscher Matthias Horx voller Zuversicht eine viel beachtete sogenannte „Re-Gnose“, also einen Blick aus der Zukunft zurück in die imaginierte Gegenwart um den September 2020. Nun haben wir diesen September 2020 erreicht. Der damalige Enthusiasmus von Horx über die Zeit nach Corona wirkt jetzt ziemlich naiv und realitätsfremd. Die körperliche Distanz „erzwang“ eine neue Nähe? Die gesellschaftliche Höflichkeit habe zugenommen? Eine „neue Kultur der Erreichbarkeit“ sei entstanden? Mehr Humor und Mitmenschlichkeit statt Technik- Hype? Für alle diese Prophezeiungen gibt es weder Belege noch anekdotische Evidenz.
Auch über die Schule nach dem Corona-Shutdown ist schon viel geschrieben worden. Die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann erhofft sich im FURCHEGespräch (siehe Ausgabe Nr. 37) mehr Unterricht im Freien und die Freisetzung „von ganz neuen Dynamiken“ in den Schulen. Die Coronakrise als möglicher „Game-Changer“. Vielleicht ist es keine Hoffnung, sondern auch eine Erwartung, eine Prophezeiung oder einfach nur Wunschdenken.
IT-Firmen bauen Einfluss aus #
Thomas Krebs, der Vorsitzende des Wiener Zentralausschusses in der Pflichtschullehrergewerkschaft, stand hingegen in der FURCHE-Debatte für den skeptischen Pragmatiker. Eine Einstellung, die wohl typisch für die Mehrzahl der Lehrkräfte ist: Was ist realistisch, was ist machbar? Die professionelle Biologielehrerin ist schon lange vor Corona im Rahmen eines Lehrausganges in den Park oder den Wald gegangen, um Bäume „anzusehen“ (Hamanns Beispiel) und das Gesehene methodisch und systematisch in den Unterricht einzubeziehen. Aber jede Woche in den Wald? Mehr Unterricht im Grünen? Schwierig, wenn die Innenstadtschule keine eigenen Grünflächen hat und sich den Park mit anderen Schulen teilen müsste. „Schule neu denken“? Schon lange vor Corona gab es zahlreiche Visionen, wie Schule anders sein könnte. Einiges davon wurde auch ausprobiert und erfolgreich umgesetzt. Anderes ist an der Realität gescheitert – an den berühmten „Strukturen“, an Vorgesetzten, an Geldmangel, an Inkompetenz oder einfach an der Überlastung der Lehrkräfte.
Viel wahrscheinlicher ist eine andere Entwicklung: Was wir in Zukunft haben werden, ist nicht der Unterricht im Park oder das Vokalbellernen beim Sport, sondern mehr Digitalisierung – zur Freude von Microsoft, Apple und Co. In diesem Bereich lässt sich nämlich sehr viel Geld machen.
Schon im Sommer 2019 berichtete die Süddeutsche Zeitung von zahlreichen Schulen in Deutschland, in denen die Eltern freundlich aufgefordert werden, Beträge von bis zu 500 Euro für iPad oder Laptop (inklusive Software, Versicherung etc.) ihrer Kinder zu entrichten. „Bring your own device“, heißt es manchmal etwas beschönigend. Fallweise wird sogar vorgeschrieben, welches Produkt angeschafft werden soll, weil sonst die Kompatibilität der Systeme nicht gewährt werden könne. Lernmittel sind wie in Österreich kostenfrei, um sozial schwächeren Familien zu helfen. Aber iPads gehören per definitionem einfach nicht zu diesen Lernmitteln.
Während des Corona-Shutdowns ließ sich an Österreichs Schulen gut beobachten, wie Microsoft, aber auch andere Firmen ihren Einfluss weiter ausbauen konnten. Die digitale Kommunikation lief etwa über Microsoft Teams, LMS.at, Eduvidual. at (Moodle) oder GSuite for Education (Goolge). „Teams“ ist ein Teil des Office-Pakets, das den Schulen gratis zur Verfügung gestellt wird. Wohl mit dem Hintergedanken, dass damit Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler und vielleicht auch Eltern langfristig an das Produkt gebunden werden. Offensichtlich widerspricht das dem Neutralitätsgebot der Schulen, das etwa eindeutige PR verbietet. Nun haben Distance-Learning und die damit verbundene Digitalisierung in Corona-Zeiten durchaus ihre Berechtigung. Aber es bleiben für die Zeit „danach“ berechtigte Zweifel an der pädagogischen, sozialen und psychischen Sinnhaftigkeit eines digitalisierten Unterrichts.
Soziale Kluft vertieft sich #
Anzunehmen ist, dass auch wegen der wahrscheinlich zunehmenden Digitalisierung an den Schulen die bildungsfernen und ärmeren Schichten noch weiter „abgehängt“ werden. Das kann aus dem Integrationsbericht herausgelesen werden, der die Bildung als „Baustelle der Integration“ bezeichnet – so Katharina Pabel, die Vorsitzende des Integration-Expertenrates. Etwa ein Viertel der österreichischen Bevölkerung hat mittlerweile Migrationshintergrund. Deren Kinder haben besondere Schwierigkeiten, die Bildungsstandards zu erreichen. In Deutsch erreichen sie 69 Prozent nicht oder nur teilweise (ohne Migrationshintergrund: 39 Prozent). Zu viele Schulen „leben“ weiterhin davon, dass sie von den Eltern massiv zu Hause unterstützt werden. Der Soziologe Kenan Güngör meint dazu: „Je mehr die Eltern ihre Kinder schulisch unterstützen, desto erfolgreicher sind die Kinder.“ Bildungsferne und ärmere Schichten sind hier mehrfach benachteiligt: Sie können – etwa wegen Sprachproblemen – nur weniger fördern, haben weniger oder kein Geld für Nachhilfe und können mit der Digitalisierung weniger mithalten.
Der Expertenrat empfahl im Zuge der Präsentation des diesjährigen Integrationsberichts „die Ausweitung von ganztägigen Schulformen“. Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) ist allerdings dagegen. In der Wissenschaft selbst finden sich plausible Argumente für und gegen die Ganztagsschule. Entscheidend ist wie in anderen Fällen die Qualität des Unterrichts oder der Betreuung am Nachmittag. Bildungsexperte Stefan Hopmann von der Universität Wien empfiehlt deshalb nicht die Ganztagsschule als Patentrezept, sondern zusätzliche und qualifizierte Lehrkräfte für die benachteiligten Schülerinnen und Schüler.
Didaktik kommt zu kurz #
Dieser sinnvolle Vorschlag wird wohl nicht umgesetzt werden. Bessere Chancen auf Verwirklichung hat die Digitalisierung der Schule. Sie sollte nicht pauschal verurteilt werden. Während des Corona-Lockdowns ermöglichte sie ein durchaus sinnvolles Distance-Learning. Es ist nicht per se falsch, wenn Jugendliche in Österreich auf die „digitale Arbeitswelt in einer globalisierten Wirtschaft“ vorbereitet werden – so die typische Formulierung, die in diesem Zusammenhang zu hören ist. Aber es ist zu befürchten, dass die pädagogischen und didaktischen Aspekte ins Hintertreffen gelangen und die Digitalisierung zum Selbstzweck wird. Bis heute gibt es offenbar kein Gesamtkonzept des Bildungsministeriums.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die menschliche Zivilisation nach Corona nicht „neu erfinden“, wie das Matthias Horx im Frühjahr vermutete – oder sich herbeigewünscht hat. Mehr Humor und Mitmenschlichkeit? Studien legen nahe, dass psychische Erkrankungen zugenommen haben, wie etwa Depressionen, Schlafstörungen, Angstsymptome oder Drogenmissbrauch. Die österreichische Schule nach Corona wird wohl nicht „neu gedacht“ werden. Eher werden die Gegensätze zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern, zwischen armen und sozial bessergestellten Familien zunehmen.
Der Autor ist AHS-Lehrer, Dozent für Neuere Geschichte und Lehrbeauftragter an der Universität Wien.