Ein Tempel für die Himmelsmuse#
Vor hundert Jahren ging die Wiener Urania, die erste österreichische Volkssternwarte, in Betrieb#
Mit freundlicher Genehmigung von der Wiener Zeitung (Samstag, 8. Mai 2010)
Von
Christian Pinter
Man schreibt den 20. Mai 1910. Noch ahnt niemand etwas von den Schrecken und Gräueln eines Weltkriegs. Dafür strahlt ein Komet Faszination und Angst aus. Nachdem schon Anfang des Jahres ein völlig unerwarteter Himmelsvagabund aufgetaucht ist, soll sich nun auch der berühmte Komet Halley wieder am Abendhimmel blicken lassen. Gerade ist die Erde durch seinen Schweif gezogen, in dessen Spektrum man giftiges Cyan nachgewiesen hat. Das neu erbaute Volkbildungshaus Urania in Wien sollte ursprünglich am 6. Juni feierlich eröffnet werden. Darauf will man aber jetzt angesichts der Aufregung nicht mehr warten: Die hauseigene Sternwarte geht schon drei Wochen früher in Betrieb als geplant. Doch zunächst enttäuscht der berühmte Himmelswanderer „die in ihn gesetzten Hoffnungen und Befürchtungen in gleichem Maße“, meldet die „Wiener Abendpost“ (wie damals die Abendausgabe der „Wiener Zeitung“ heißt). Und sie berichtet von Abertausenden, die am 20. Mai mit Ferngläsern und Opernguckern auf den Kahlenberg und das Hameau gezogen sind, um einen Blick auf Halley zu erhaschen. Doch nur die dortigen Wirte würden den Kometen in gutem Andenken behalten, resümiert das Blatt.
Drehbares Kuppeldach#
Auch auf der neuen Sternwarte hat man am ersten Abend Pech. Die ungünstige Witterung erlaubt bloß die Beobachtung des Mondes. „In eine für die Vorgänge im Weltenraume sehr empfindliche Zeit fiel die gestrige Eröffnung der Sternwarte im neuen Gebäude der Urania“, fasst die „Abendpost“ zusammen: „Mit großer Zuvorkommenheit gab Assistent Dr. Jaschke die nötigen Erläuterungen; das lebhafte Interesse weckte die Konstruktion des drehbaren Kuppeldaches“. Auch wenn die vorzeitige Eröffnung unter keinem guten Stern zu stehen scheint, versammelt Heinrich Jaschke die Wiener bald in Scharen unter der Sternwartekuppel. Er kennt die Geschichte der Urania-Idee genau. Ihre Anfänge reichen in die Berliner Jahre des legendären Alexander von Humboldt zurück.
1827 umrahmte dieser Universalgelehrte und Weltreisende seine 16 vielbeachteten, öffentlichen Vorträge über die „Physikalische Geografie“ mit Gedanken über das Antlitz anderer Himmelskörper. Als königlicher Kammerherr setzte er sich erfolgreich für den Bau der neuen Berliner Sternwarte ein, die neben der wissenschaftlichen Arbeit auch Führungen für Laien anbieten sollte. Deshalb ging es dort nach der Entdeckung des Planeten Neptun zu wie in einem „Taubenhaus“, klagte der damalige Direktor Johann Franz Encke.
1883 ließ sich der dreißigjährige, in Braunschweig geborene Max Wilhelm Meyer in Wien nieder. Hier rechnete er im Auftrag des Astronomen Theodor von Oppolzer am epochalen „Canon der Finsternisse“ mit. Es galt, die für Historiker wichtigen Daten von mehr als 13.000 Sonnen- und Mondfinsternissen zu kalkulieren, und zwar über einen Zeitraum von gut drei Jahrtausenden.
In Wien verwirklichte Meyer auch seinen langgehegten Traum vom „Wissenschaftlichen Theater“. Gemeinsam mit Bühnenbildnern schuf er räumliche Miniwelten, die den Zuseher auf den Mond oder in die Urzeit der Erde versetzten. Anders als herkömmliche Vorträge sollten die kommentierten Szenarien auch das Auge und die Gefühle der Betrachter ansprechen – und so einen größeren Besucherkreis erschließen. (Filmvorführungen gab es damals ja noch nicht.) Meyers Erstlingswerk, „Bilder aus der Sternenwelt“, stieß in der Habsburgermetropole auf begeisterte Aufnahme. Dennoch zog es ihn zurück nach Deutschland. In Berlin schrieb er für das noch junge „Tageblatt“. Später sollte eine ganze Serie populärwissenschaftlicher Büchlein folgen, mit Titeln wie „Sonne und Sterne“, „Die Welt der Planeten“, „Der Mond“, „Weltschöpfung“ oder „Weltuntergang“. An der Spree traf Meyer Direktor Enckes Nachfolger an der Berliner Sternwarte, den Astronomen Wilhelm Foerster.
Die beiden wünschten sich eine Institution, die bei möglichst vielen Menschen Interesse an der Forschung wecken konnte. Bald gewannen sie Kaufleute, Bankiers und Industrielle für ihre Idee, allen voran den wohlhabenden Erfinder Werner Siemens.
1888 rief man eine einschlägige Gesellschaft ins Leben. Foerster taufte sie „Urania“, nach der griechischen Muse der Himmelskunde. Schon im Jahr darauf besaß sie ein erstes eigenes Haus, das gleich von drei Sternwartekuppeln gekrönt wurde. Unter einem Dach vereinte es Abteilungen für Astronomie, Physik, Mikroskopie und Biologie, Präzisionsmechanik und natürlich Meyers wissenschaftliches Theater.
Berühmte "Uraniazeit"#
All das wurde von einem wuchtigen, 35 Meter hohen Sternwarteturm überragt. Dieser trug eine zwölfseitige Aussichtslaterne und eine drehbare, gut sechs Meter weite Kuppel, die über die Dächer der Ringstraßengebäude blickte. Brezina erlebte die Eröffnung des neuen Hauses nicht mehr, Meyer überlebte sie nur um wenige Monate. Sternwarteleiter Jaschke starb schon 1912 an einem Herzleiden, noch nicht einmal 30 Jahre alt. Sein Nachfolger Gideon Riegler fiel im ersten Kriegsmonat.
Dabei hatte die erste österreichische Volkssternwarte gerade eine zusätzliche, wichtige Aufgabe erhalten: Sie sollte über die Zeit wachen. Mittels regelmäßiger Himmelsbeobachtungen wurde eine Präzisionspendeluhr der Karlsteiner k.k. Uhrmacherschule kontrolliert. Diese wiederum steuerte die große Außenuhr und ein Telefonsignal. Das war damals noch so ungewohnt, dass sich Sternwarteleiter Oswald Thomas 1920 zu der Klarstellung veranlasst sah: „Die Verbindung dient nur zum Abhören der Zeitzeichen, nicht aber zum Sprechen“.
Allfällige Wünsche oder Beschwerden waren in schriftlicher Form einzubringen. Täglich stellten bis zu 3000 Anrufer ihre Uhr nach der berühmten „Uraniazeit“.
Stolz führte man die aufwendige Zeitanlage im obersten Stockwerk vor. Bei klarem Himmel versammelten sich die Besucher aber vorzugsweise unter der Kuppel, die ein Linsenteleskop mit 20 cm Objektivdurchmesser umschloss. Konradin Ferrari d’Occhieppo, der sich später einen hervorragenden Ruf als Astronomiehistoriker erwarb, richtete es zu den Sternen empor. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb eingestellt. Am 5. November 1944 zerstörte eine Fliegerbombe den Turm und das verlassene Zeiss-Teleskop.
Erst 1957 drehte sich die Kuppel wieder, nun sogar mit etwas größerem Durchmesser. Direktorin Maria Wähnl stand ein gedrungenes Spiegelteleskop zur Verfügung. Unter ihrem Nachfolger Hermann Mucke rückte ein speziell für den Bildungsbetrieb entworfenes Doppelfernrohr an dessen Stelle. Es besteht aus einem 30 cm weiten Spiegel- und einem im Durchmesser halb so großen, aber drei Meter langen Linsenteleskop: Das Duo halbiert die Wartezeiten der Besucher am Okular.
Jedes Jahr gehen mit dessen Hilfe tausende Gäste auf dem Mond oder den Planeten spazieren, bewundern die Pastellfarben der Sternpaare und mustern die Spektren heller Einzelsterne. Auch die subtile Wunderwelt der kosmischen Sternhaufen und Nebeln erschließt sich ihnen. Tagsüber zeigen sichere Spezialgeräte das Brodeln der Sonnenoberfläche und züngelnde Gasprotuberanzen.
Unter Direktor Peter Habison wurde die gesamte Sternwarte modernisiert, die Optik fachgerecht gereinigt und neu justiert. Das Doppelteleskop erhielt weitere Zusatzgeräte, etwa Weitwinkelokulare und Filter. Es visiert die subtilen Kostbarkeiten des Sternenhimmels nun mittels Computersteuerung an. Auch die historische Außenuhr geht am 10. Juni wieder in Betrieb. Habison weiß: Das Universum ist voller spektakulärer, geheimnisvoller Phänomene, deren Erleben zu den größten Abenteuern der Menschheit zählt. Wer die Urania im hundertsten Jahr ihres Bestehens besucht, kann daran teilnehmen.
Aktuelles Programm: www.urania-sternwarte.at
Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 für die "Wiener Zeitung". Sein astronomiegeschichtliches Lesebuch "Helden des Himmels" ist 2009 bei Kremayr & Scheriau erschienen.