Sehnsucht nach Apokalypse#
Die international verbreitete Kriegsbegeisterung erfasste am Beginn des Ersten Weltkriegs viele Schriftsteller, Maler und Komponisten. Doch die Ernüchterung blieb nicht lange aus.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 26./27. April 2014)
Von
Edwin Baumgartner
Das erste Opfer des Krieges soll die Wahrheit sein, heißt es nach einem vielfach gebrauchten Zitat, das wahlweise dem griechischen Dramatiker Aischylos und dem britischen Schriftsteller Rudyard Kipling zugeschrieben wird, doch weder beim einen, noch beim anderen nachweisbar ist. Das stimmt nicht. Das erste Opfer des Krieges ist der Anstand. Denn nur der Verlust des Anstands ermöglicht den Verlust der Wahrheit, und der Verlust des Anstands bewirkt, dass Dichter, Schriftsteller, Musiker sich missbrauchen, für den Krieg zu werben, den sie als den größten Wahnsinn der Menschheit erkennen müssten.
Aktive Opportunisten#
"Müssten" - auf den Konjunktiv sei mit allem Nachdruck hingewiesen. Künstler verfügen über eine menschliche Tiefenschau, ohne die ihre Kunst unmöglich wäre; sie verfügen über ein besonderes Sensorium, meint man, weshalb man sie zu Leitbildern idealisiert. Doch das ist kurzsichtig. Denn Künstler sind vor allem eines: Sie sind Opportunisten.
Die Generalisierung ist gefährlich, gewiss - und sie ist, wie alle Generalisierungen, jederzeit widerlegbar, aber die Zahl der Gegenbeispiele wird die Regel nicht brechen. Künstler, die sich ohne die geringste Notwendigkeit aus innerer Überzeugung, unter Gefahr für ihr Ansehen und ohne den Schutz einer politischen Gruppierung gegen eine Mehrheitsmeinung stellten, befinden sich in einer verschwindenden Minderheit - es ist heute nicht anders, wenn der amerikanische Komponist Richard Danielpour ein Requiem für die Toten von 9/11 schreibt, und es war damals nicht anders, als der griechische Dichter Homer den griechischen Sieg über Troja feierte. Kann man dann einem Bertolt Brecht wirklich vorwerfen, in der "Erziehung der Hirse" Stalin zu feiern? Künstlerische Propaganda überall in allen Zeiten. (Und Vorsicht ist geboten! Das Hundertste zieht das Tausendste, das Befleckte das Dreckige nach sich. Wie weit ist die "Erziehung der Hirse" - geschrieben, als Brecht um Stalins Verbrechen wohl wusste - entfernt von Agnes Miegels "Dem Führer", geschrieben 1936, als die rauchenden Schlote von Auschwitz nur in Vorahnungen existierten? Wie viel Wissen um die Umwelt ist einem Künstler zumutbar?)
Der Fall Bartók#
Man könnte auch so sagen: Der Fall Béla Bartóks ist fast einzigartig. Der ungarische Komponist verließ das nationalsozialistisch bzw. faschistisch infizierte Europa aus einem einzigen Grund: Ihn widerten Rechts-Diktaturen an. Bartók war kein Jude, seine Musik galt nicht einmal als "entartet". Er wollte lediglich weder mit Benito Mussolinis noch mit Adolf Hitlers Kunstpolitik auch nur das Geringste zu tun haben.
Gerade deshalb ist dieser Fall Bartók so symptomatisch - weil Bartók tatsächlich ein durch und durch nobler Charakter war, der unbeugsam seinen humanistischen Idealen folgte und sich lieber in den USA mit Klavierunterricht für Anfänger durchschlug, als sich von politischen Kräften vereinnahmen zu lassen, die er verachtete. Und doch diente dieser unbeugsame und stolze Mann im Ersten Weltkrieg in der Musikabteilung der transleithanischen Gruppe für die österreichisch-ungarische Kriegspropaganda. Er war keine untergeordnete Charge, sondern ihr Leiter.
Andere Namen fallen auf: Viktor Ullmann und Hans Krása etwa - beide Komponisten werden knapp 30 Jahre später in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Unter den Dichtern und Schriftstellern arbeiten Leo Perutz, Alfred Polgar, Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil für die Kriegspropaganda - und sogar Franz Werfel, jener Dichter, dessen Hymnen über Menschenliebe und weltumspannende Brüderlichkeit ein berauschender Höhepunkt des Expressionismus sind.
Ernst Lissauers Hass auf England#
Selbst Stefan Zweig packt kurze Zeit die Kriegsbegeisterung, ehe er sich zum Pazifisten wandelt, und Ernst Lissauer, ein keineswegs unfähiger Lyriker und Dramatiker, über den Zweig schreibt, er sei "der gutmütigste Mensch" gewesen, "den man sich denken konnte" und "mit allen seinen Lächerlichkeiten musste man ihn doch lieb gewinnen, weil er warmherzig war, kameradschaftlich, ehrlich und von einer fast dämonischen Hingabe an seine Kunst" - dieser Ernst Lissauer also dichtet: "Dich werden wir hassen mit langem Haß / wir werden nicht lassen von unserem Haß, / Haß zu Wasser und Haß zu Land, Haß der Hämmer und Haß der Kronen, Drosselnder Haß von siebzig Millionen, Sie lieben vereint, sie hassen vereint / Sie haben alle nur einen Feind: / England."
Immerhin bemerkenswert, wie schnell ein gewiss nicht erstrangiger, aber ernstzunehmender Dichter seine sprachliche Qualität verliert, wenn ihm der Schaum vor Mund und Feder steht: Da ist nicht nur der Reim "Haß" auf "Haß" schlecht - auch, was ein "drosselnder Haß" sein soll, wirft Fragen auf. Dass diese Strophe in Paula von Preradovics Österreichischer Bundeshymne einen Nachhall findet (so weit ist der - dichterische - Weg von "Haß der Hämmer und Haß der Kronen" zu "Land der Dome, Land der Hämmer," wahrhaft nicht), sei als unwillkommener Zufall abgetan.
Sind Bartók, Werfel, Musil und viele andere Propagandisten des Krieges? Was treibt sie an, die es besser wissen müssten?
Ein wenig davon kann man erahnen, wenn man die Bücher über den Ersten Weltkrieg genau liest oder den Kommentaren der Fernseh-Dokumentationen genau zuhört. Da fällt oft das Wort "Apokalypse".
In unserer zunehmend profanen Zeit ist dieses Wort schnell bei der Hand. Hier eine schlecht verwaltete Sondermüllanlage (zu verführerisch ist der Stabreim mit dem Aargau, wo sich diese befindet), da ein havariertes Atomkraftwerk, dort Bedrohung durch Bakterien, weil ein Antibiotikum seine Wirkung schneller verliert als vermutet - alles Apokalypsen.
Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Wort noch die Bedeutung des allumfassenden Weltgerichts, ob man dieses nun religiös auffassen mochte oder nicht. Die Reinigung der Welt durch eine Apokalypse - das war es, was den Künstlern, speziell jenen, die Kunst religiös konnotierten oder sie zu einer Religion stilisierten, mit dem Ersten Weltkrieg vorschwebte. Deshalb konnten sich nur eingeschworene Rationalisten wie der österreichische Dichter und Journalist Karl Kraus dem "Weltenbrand" auch geistig verweigern und ihn von Anfang an als das darstellen, was er tatsächlich war: ein Verbrechen an der Menschheit, an der Menschlichkeit.
Manche gaben sich der süßen Verführung des Volkszusammenwachsens hin und ignorierten geflissentlich, dass jedes dieser zusammengewachsenen Völker das andere umbringen wollte. "Was die Dichter begeisterte", konstatierte 1914 Thomas Mann, der sich zweifellos für einen Dichter hielt, sich selbst also wohl miteinbezog, "war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluss der Nation in der Bereitschaft zur tiefsten Prüfung." Und Carl Zuckmayer, der das "Notabitur" machte, um sich als Freiwilliger melden zu können, schrieb, man sei "von der Gewalt des Augenblicks mitgerissen" gewesen.
Rudolf Alexander Schröder, Verfasser bedeutender christlicher Lyrik, nützte gar seine sonst dem evangelischen Kirchenlied zukommende Wortgewalt für einen "Deutschen Feldpostgruß" an den Verbündeten: "Österreich, Österreich, / Hab’ nur Geduld! / Und wären’s Mordgesellen / Soviel wie Meereswellen, / Wie Sand auf dürrer Heiden - / Gott wird’s hernach bescheiden! / Österreich, Österreich, hab‘ nur Geduld!" Worauf der Österreicher Hugo von Hofmannsthal seine "Österreichische Antwort" gab: "Antwort gibt im Felde dort, / Faust, die festgeballte, / Antwort dir gibt nur ein Wort: / Jenes Gott erhalte!"
Gerhart Hauptmanns Verirrungen#
Gerhart Hauptmann reimt ein "Reiterlied", in dem "Räuber" Deutschland an die Ehre wollen: "Es kommt wohl ein Franzos daher / Wer da, wer? / Deutschland wir wollen an deine Ehr’ / Nimmermehr / Schon wecken die Trompeten durch das Land / jeder hat ein Schwert zur Hand / man kennt es gut, dies gute Schwert / von Spichern, Weißenburg und Wörth / das deutsche Schwert". Dass ein Autor, der eine solche Diktion an den Tag legt, 20 Jahre später beim Nationalsozialismus landet, ist nahezu vorgezeichnet, wobei der Charakterdefekt die Bedeutung des Dramatikers nicht schmälert.
Wesentlich mehr als die Posi- tion des vom umstrittenen scharfsichtigen Diagnostiker sozialer Missstände zum patriotischen Großdichter gewandelten Hauptmann irritiert der sozialistische Dichter Heinrich Lersch, wenn er im verlogenen Volksliedtonfall junge Menschen als Freiwillige in den Krieg hetzt: "Laß mich gehn Mutter laß mich gehen / all das Weinen kann uns nichts mehr nützen / denn wir gehn, das Vaterland zu schützen / Laß mich gehn Mutter laß mich gehen / deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen / Deutschland soll leben und wenn wir sterben müssen". Wusste Lersch wirklich nicht, was er da schrieb?
Doch nicht nur die Dichter waren verblendet: Er erblicke in diesem Krieg "den heilsamen, wenn auch grausamen Durchgang zu unseren Zielen", schrieb der Maler Franz Marc, der sich freiwillig gemeldet hatte und 1916 bei Verdun sein Leben verlieren sollte, an seinen Kollegen Wassily Kandinsky. Und Max Beckmann malte kriegsbefürwortende Jubelbilder. Max Ernst, Otto Dix und Ernst Ludwig Kirchner begrüßten die Apokalypse, in der sie die Vergangenheit untergehen und eine neue Zeit wie einen Phönix aus der Asche emporsteigen sehen wollten, ebenso wie Oskar Kokoschka.
Sie alle meldeten sich, wie auch die Dichter Richard Dehmel, Alfred Döblin, Ernst Toller oder Georg Trakl, freiwillig zum Militärdienst - und sie alle erlebten eine Ernüchterung, wenngleich sie nicht bei allen so tiefgreifend war wie bei Trakl, der schon 1914 an ihr zugrundeging.
Barlachs "Rächer" mit dem Schwert#
Befremdlicher noch: Ernst Barlach, der heute als Pazifist gilt und wegen seiner kriegsverachtenden, zutiefst antimilitaristischen und humanistischen Gesinnung von den Nationalsozialisten als "entartet" verfolgt wurde, stellte sich im Ersten Weltkrieg patriotisch auf die Seite Deutschlands und schuf in Hinblick auf die Kriegserklärung Englands die Skulptur "Der Rächer", die einen mit erhobenem Schwert voranstürmenden entindividualisierten Mann zeigt, einem Todesengel verwandt.
Das Verstörende daran ist, dass diese Skulptur kein schnell hingeflunkertes, für das Gesamtschaffen unwesentliches Nebenwerk ist: "Der Rächer" ist, ganz im Gegenteil, ein Meisterwerk, ein Höhepunkt im Schaffen Barlachs, das Ergebnis einer inneren Überzeugung.
Künstler im kriegsbegeisterten Taumel - war das eine deutsch-österreichische Angelegenheit? Keineswegs. Die Apokalyptik des Geschehens erfasste auch die Künstler der anderen Nationen in unterschiedlichem Ausmaß. Mitunter muss man freilich die Psychologie bemühen, wie im Fall des französischen Komponisten Claude Debussy, der sich in einer heute grotesk anmutenden, damals jedoch keineswegs aus dem Rahmen fallenden patriotischen Aufwallung zu "Claude de France" hochstilisierte und 1915 das befremdliche Lied "Noël des enfants qui n’ont plus de maison" (Weihnachtslied der Kinder, die kein Zuhause mehr haben) komponierte. Allerdings war Claude Debussy Künstler genug, das Leid der Kinder stärker zu betonen als den Hass auf die Verursacher dieses Leids.
Da war der englische Komponist Edward Elgar schon ein anderes Kaliber: Er war immer gerne bereit, Konflikte mit Gewalt zu lösen, er empfahl etwa via Radiosendung, einen Bergarbeiterstreik mit Waffengewalt niederzuschlagen, wie der britische Komponist Peter Maxwell Davies, derzeitiger Master of Queen’s Music, berichtet. Im Ersten Weltkrieg komponierte er stramme patriotische und antideutsche Kantaten: Bezog er sich in "Carillon", "Une voix dans le désert", "Le drapeau belge" zuerst auf das Kriegsgeschehen in Belgien, gipfelten seine Bemühungen schließlich in "The Spirit of England" und der, naturgemäß gleichermaßen patriotisch verstandenen Trauerode "For the Fallen". Das Marsch- und Hymnenpathos dieser Werke entspricht den kriegsbefürwortenden Plakaten der Deutschen und Österreicher.
Schmerzhafte Verluste und Lernprozesse#
Eine ähnliche Position nahm der Dichter und Schriftsteller Rud-yard Kipling ein: Er arbeitete bei der "Commonwealth War Graves Commission" mit, für die er Inschriften zu Kriegsgrabmalen dichtete. Kipling war stark antideutsch eingestellt und ein entschiedener Befürworter des Krieges. Doch bei ihm folgte, anders als bei Elgar, die Ernüchterung: Rudyard Kiplings ältester Sohn John fiel, gerade einmal 18 Jahre alt, 1915 in der Schlacht von Loos. "If any Question why we died, tell them, because our fathers lied" (Wenn jemand fragt, warum wir starben, sagt ihnen, weil unsere Väter logen), war die Reaktion des von der Kriegslust geläuterten Dichters.
Sein Kollege Siegfried Sassoon schleuderte gar die Tapferkeitsauszeichnung, die ihm, der sich freiwillig gemeldet hatte, verliehen worden war, 1916 in den Fluss Mersey.
Und der Dichter Wilfred Owen bezahlte sogar mit seinem Leben: 1915 hatte er sich freiwillig gemeldet, auch er im bei ihm durchaus religiös zu verstehenden Glauben, an der reinigenden Apokalypse teilzunehmen. Während der Kämpfe wurde er zum Kriegsgegner und zum Autor der seltsamsten Antikriegslyrik der Literaturgeschichte, wenn sich Bibel und Schlachtenlärm zu Bildern von einzigartig visionärer Schau verbinden.
In keinem anderen Künstler bricht die anfängliche Kriegsbegeisterung, der Glauben an die Propaganda, die eigene Propagierung des Krieges auf eine vergleichbare Weise zusammen. Owen steht für die große Ernüchterung, die der nichts reinigenden Apokalypse folgte.
Owen fällt am 1. Oktober 1918. Fast auf die Stunde genau eine Woche später wurde der Waffenstillstand verkündet. Die Nachricht von Owens Tod wurde in seiner Heimat von Friedensglocken begleitet.
Eines seiner fragmentarisch hinterlassenen Gedichte endet mit der Zeile: "I am the enemy you killed, my friend" - Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund.
Edwin Baumgartner ist Kultur-Redakteur der "Wiener Zeitung" und Experte für Musik- und Literaturgeschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts.
Wichtigster Zeuge und somit wichtigste Quelle für die bewusste Auslösung des Ersten WEltkrieges durch Österreich-Ungarn und dessen entscheidende Rolle ist der bis 1918 erfolgreichste Historiker Österreichs, Heinrich Friedjung - sein Hauptwerk erreichte in kürzester Zeit zehn Auflagen - dem Kriegsminister Auffenberg-Komarov schon 1912 dezidiert erklärte, der Krieg müsse spätestens 1914 im Sommer ausgelöst werden, da sonst Bosnien-Herzegowina an Serbien verloren gehe, der Anlass müsse gefunden werden, so Auffenberg-Komarov, in: Heinrich Friedjung: Geschichte in Gesprächen, Böhlau-Verlag, Wien - Mainz - Köln 1997, zu Friedjung vgl. die in diesem Werk zitierten Analysen von Karl Glaubauf über die Vorgeschichte des Weltkrieges und die Bismarck- Interpretation Friedjungs.
-- Glaubauf Karl, Sonntag, 18. Mai 2014, 01:00