Die Körner des Buches der Bücher #
Vor 150 Jahren, am 28. Jänner, starb mit Adalbert Stifter ein Autor, den die Erkenntnisse der Naturwissenschaften prägten, aber auch die Bibel. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, 25. Jänner 2018
Von
Wolfgang Häusler
„Vom St. Stephansturme“ blickte Adalbert Stifter 1843 auf die wachsende Großstadt Wien und beschrieb angesichts des neuen Hauptmünzamtes das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu Glück und Geld – „ein blendend Gespenst, dem wir, als wäre es Glück, nachjagen – […] ein rätselhafter Abgrund, aus dem alle Genüsse der Welt emportauchen, und in den wir dafür das höchste Gut dieser Erde hineingeworfen haben, die Bruderliebe“ – Entfremdungs- und Kapitalismuskritik, zeitgleich mit Karl Marx, im Geist des Evangeliums.
Ein Jahr zuvor, am 8. Juli 1842, hatte Stifter vom Kornhäuselturm aus die Sonnenfinsternis beobachtet: „Es war nicht anders, als hätte Gott auch einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden. Ich stieg von der Warte herab, wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte, verwirrten und betäubten Herzens. […] Es war der Moment; da Gott redete und die Menschen schwiegen. […] Eine solche Erhabenheit, ich möchte sagen Gottesnähe, war in der Erscheinung dieser zwei Minuten, daß dem Herzen nicht anders war, als müsse er irgendwo stehen.“ Der Künstler Stifter fragte nach einer „Lichtmusik“ im Sinne Beethovens, der Naturwissenschafter nach den „Naturgesetzen, Wundern und Geschöpfen Gottes“: „Sind diese Gesetze sein glänzendes Kleid, das ihn deckt, und muß er es lüften, daß wir ihn selbst schauen?“
Buchstabenglauben, Naturbeschreibung #
Mit Stifter stehen wir in der Übergangskrise von biblischem Buchstabenglauben und mathematischer Naturbeschreibung – in der Reihe Galilei, Kepler, Newton. Es geht um die Stellung des Menschen zwischen dem unermesslich Großen und unendlich Kleinen, Weltall und Atom (Stifters „Sandkörnchen“). Seine gleichermaßen literarischen und naturwissenschaftlichen „Studien“ standen im Zeichen des Logos im Kanon der Naturwissenschaften: Biologie entstand aus Naturphilosophie und Empirie; genetisches Verständnis drang forschend in die Geheimnisse des Lebens ein. Geologie und Paläontologie namentlich waren es, die Stifter im Kreis der „Freunde der Naturwissenschaften“, vor allem mit Friedrich Simony, zur Erkenntnis der Geschichte der Erde und des Lebens führten, verdichtet im System der „Bunten Steine“. Die modernen Logos-Wissenschaften gewannen in Stifters Bildungswelt Gestalt und Inhalt. Das Johannes-Evangelium hebt mit dem Logos zum Adlerflug des schaffenden Gotteswortes, zur Mensch-/Fleischwerdung durch den Geist an: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort …“ Im alten Messkanon der katholischen Kirche hatte das erste Johannes-Kapitel mit seiner Deutung des in Licht und Leben wirkenden Gottessohns für die Kinder Gottes seinen festen Platz als Schlussevangelium.
Stifters Weltbild wurzelt in seiner Bildung im Stiftsgymnasium von Kremsmünster mit dem mathematischen Turm, zuhöchst die Sternwarte. Der Aufenthaltsraum für den Astronomen wurde als Kapelle gestaltet mit dem Areopagiten Dionysios als Beobachter der Sonnenfinsternis beim Kreuzestod Christi und der Kosmos-Vision des Ordensvaters Benedikt. Bis in Stifters Jugend standen, seit dem Galilei-Prozess, die Schriften des Kopernikus unter kirchlichem Verdikt, doch nach der Hypothesis Copernicana durfte geforscht werden. So stehen im Kremsmünsterer Turm die Statuen von Ptolemäos, Tycho de Brahe und – Johannes Kepler (1779). Aus der „Narrenburg“ ist mit „Prokopus“ die astronomische Forschung hervorgehoben: „Zirkelodem der Sterne“. Lange Zeit ging Stifter mit dem Plan eines Kepler-Romans um, im Sinne der „Vernunftwürde des Menschen in seiner Sitte, in seiner Wissenschaft, in seiner Kunst“ (an Heckenast, 1858): „In Linz hat auch einmal so ein moralisch Gekreuzigter gelebt, dessen Spuren ich hier oft mit schauernder Ehrfurcht nachgehe. Weil er hier die Gesetze der Planetenbewegungen fand, schalten ihn die Stände, daß er Hirngespinsten nachgehe, der Sternkundige Kepler.“
Am Ende des „Heiligen Abend“ (in den „Bunten Steinen“ „Bergkrystall“) steht der rätselhaft tiefe Satz aus dem Munde des kleinen Mädchens Sanna: „Mutter, ich habe heute Nacht den heiligen Christ gesehen“ – eine Erinnerung an die Vision des Christusbildes in Dantes „Göttlicher Komödie“. In dieser Erzählung hat Stifter alle Register seiner meteorologischen, glaziologischen und astronomischen Kenntnisse gezogen. Die Kinder erleben das „stumme Schütten“ des Schneefalls, das wunderbare Blau der Gletscherhöhle, dann den kreisenden Sternenhimmel, ein Nordlicht, schließlich den Sonnenaufgang. Millsdorf und Gschaid sind Chiffren für Hallstatt und Gosau in sozialer und konfessioneller Differenz, die von der gemeinsamen Suche nach den verirrten Kindern überbrückt wird: „Nachbarn! Freunde! Ich dank’ Euch!“ – „Danken wir alle Gott!“ – „Die Kinder waren von nun an erst rech te Eingeborene des Dorfes.“ Das Weihnachtsfest verbindet Katholiken und Protestanten, die in der Gosau ein wichtiges Zentrum hatten. „Bergkrystall“ ist eine Mahnung zur Toleranz: 1837 waren aus dem Zillertal 427 Kryptoprotestanten ausgewiesen worden.
Diese Problematik steht auch hinter dem „Armen Wohltäter“, im „Kalkstein“. Der Erzähler lernt ihn als bedürfnislosen Seelsorger kennen, der mit der Bibel als Kopfkissen schläft. Er ist in der Erstfassung protestantischer Geistlicher, die Zweitfassung macht ihn zum Katholiken, belässt ihm aber das Bäffchen – Versehen oder Absicht? Nach seinem Tod stellt sich heraus, dass das in vermeintlichem Geiz ersparte Geld für einen Schulbau im hochwassergefährdeten Kar bestimmt ist. Der autobiografische „Waldgänger“ stammt aus einem protestantischen Pfarrhaus Norddeutschlands.
Die Herrschaft der Rosenberger mit dem Zentrum Krumau rahmt die konfessionelle Entwicklung von Stifters Heimat. Der letzte des Geschlechts, Peter Wok, bekannte sich zur Gemeinde der Böhmischen Brüder, er musste die meisten seiner Herrschaften an Rudolf II. veräußern. Er starb 1611 in Wittingau. Sein älterer Bruder Wilhelm hatte noch das Jesuitenkolleg in Krumau gestiftet. Stifters Heimatort Oberplan an der Moldau stand unter der Herrschaft des Stiftes Goldenkron und blieb katholisch.
Neigung zum Protestantismus #
Seine Neigung zum Protestantismus wurde von der Großmutter Ursula Kary begründet. Von ihr heißt es im autobiografischen „Haidedorf“: Das alte Weib hatte in ihrem ganzen Leben voll harter Arbeit nur in einem einzigen Buch gelesen, der Bibel, aber in diesem Buch las und dichtete sie siebenzig Jahre […] Ganze Prophetenstellen sagte sie oft laut her.“ Der zuhörende Haideknabe nahm „das ganze Getümmel mit auf die Haide, wo er alles wieder nachspielte“, Babylon aus Steinen baute oder den Jordan vom Bach ableitete. Der heranwachsende Enkel wandert vom Elternhaus fort und kehrt nach Jahren von „Jerusalem und von der Haide des Jordan“ zurück. Die ihn als erste erkennende Großmutter ruft aus: „Er ist geworden wie die alten Seher und Propheten, […] weil ich die Körner des Buches der Bücher in ihn geworfen.“ In der Erstfassung vermittelt der vom König geehrte Orientalist und Poet der „Perlen des Orients“ Hilfe in Hungersnot. Wie in der Studienfassung sieht er nach langer Dürre den „rettenden dichten sanften Landregen“ aus den Zeichen des Himmels voraus. Diese Fassung endet mit dem Bekenntnis der gescheiterten Liebe zu Fanny Greipel. Diese Bibellektüre vermittelte die Bibelgesellschaft, die der brandenburgische Hofbeamte Carl Hildebrand von Canstein 1712 in pietistischem Geist gründete. Bis 1827 wurden nahezu drei Millionen Lutherbibeln gedruckt, zehntausende gingen heimlich in die böhmischen Länder.
Stifter hatte tiefes Verständnis für die katholische Volksfrömmigkeit. „Der beschriebene Tännling“ kritisiert die Feudalgesellschaft. Es geht um die Liebe des tüchtigsten Holzknechts zu Hanna, dem schönsten Mädchen des Dorfes, die vom Herrschaftsbesitzer zur Frau genommen wird. Hanns schleift sein Beil zur Rache, besinnt sich aber vor dem „Gnadenbild der schmerzhaften Muttergottes, […] den toten gekreuzigten Sohn auf dem Schoße, und die sieben Schwerter des Schmerzes im Herzen“, und durch die reinigende Kraft des Guten Wassers bei der Kapelle auf dem Hügel über Oberplan, von dem heute das Stifterdenkmal in den Böhmerwald, die Sumava, schaut.
Das Alte Testament wird personifiziert in der Erzählung „Abdias“. Der Name ist der des ,kleinen‘ (und kürzesten) Propheten Obadja, der den Sieg über die Feinde Israels mit Jahwes Hilfe verheißt. Der Haideknabe wird auf die Ghettosituation einer nordafrikanischen Ruinenstadt projiziert. Er meint, „ein Seher zu werden, göttliche Dinge zu erzählen“, hatte „wunderliche Dinge im Herzen […] wie jener Mohamed, der auch in der Einsamkeit glänzende Gedanken sann, die dann Flammen wurden, und über die Erde fegten“. Seinen Reichtum lässt der türkische Bei plündern; inmitten der Zerstörung gebiert seine Frau das Mädchen Ditha. Abdias zieht mit der Tochter in Stifters Heimat, wo er ein Haus mit Landwirtschaft erwirbt (eine wichtige zeitgenössische Emanzipationsforderung). Ein Blitz gibt Ditha das Augenlicht, ein Blitz tötet sie. In seiner Jugend hatte der zu Hiob gewordene Abdias „den weiten Himmel über sich geschaut, den er für den glänzenden Mantelsaum Jehovas hielt“.
Gnade und Liebe #
Die „gelassene Unschuld der Naturgesetze“ reflektiert Stifter in der Vorrede zu den „Bunten Steinen“ über das „sanfte Gesetz“. Der Widerspruch löst sich in der Überhöhung des Gesetzes des Alten Bundes durch Gnade und Liebe des Neuen Bundes: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Mt 5,5), und weiter (Mt 11,29): Nehmt auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ Die Prophezeiung Zacharjas (9, 9) erfüllt sich im Einzug in Jerusalem (Mt 21,5): „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig.“ Die entscheidende Stelle findet sich im ersten Buch der Könige, als der den Baalskult strafende Elias zur Ruhe gebracht wird. Der HERR spricht nicht „im großen, starken Wind“, nicht „im Erdbeben“ und „im Feuer“, sondern „im stillen sanften Sausen“.
„Aber es gab kein Jenseits“ – so heißt es lapidar in „Bergkrystall“, als die Kinder den Übergang nicht finden können. Im Reich des Todes, den Katakomben von St. Stephan „durchflog (mich) ein Funke der innigsten Unsterblichkeitsüberzeugung“. Den Trost des Verlegers und Freundes Heckenast nach dem Tod seiner Frau sprach Stifter mit einem physikalischen Argument aus: „Wie es sein wird, wenn wir die Grenze dieses Lebens betreten haben, wenn sein letzter Atemzug vorbei ist – wer kann das sagen? Daß alles, was göttlich ist, nicht untergehen kann, ist gewiß: geht doch nicht einmal ein Sandkorn verloren, nicht einmal ein Wassertropfen, wir wissen es und wir sehen es, daß beide nicht Nichts werden können“ (1856). Zwei Jahre zuvor hatte Stifter an Heckenast geschrieben: „Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst das Göttliche hergeben müßte.“ – Ein „heiter gelassenes Sterben“ war ihm nicht beschieden. Der Schnitt durch die Kehle verkürzte die Qual der Krankheit zum Tode. Bei der Einsegnung in der Linzer Stadtpfarrkirche leitete der Chorleiter Anton Bruckner die Liedertafel „Frohsinn“.