André Gide, Verfechter des selbstbestimmten Lebens#
Der französische Autor trat für die Freiheit des Individuums ein. Am 22. November jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 21. November 2019
Von
Oliver Bentz
Er plädierte für die Freiheit des Individuums, die ihm nur durch die Nichtanpassung an Institutionen wie die Kirche oder die Ehe realisierbar zu sein schien. Der Sinn des Lebens und die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen sind auch die Themen, die seine Prosa, seine Dramen und seine Tagebücher durchziehen.
Mit seinem unermüdlich nach Selbstverwirklichung strebenden Denken prägte André Gide das geistige Leben des 20. Jahrhunderts in entscheidendem Maße mit. Vor 150 Jahren, am 22. November 1869, wurde der Schriftsteller, der heute als Klassiker der französischen Literatur gilt, der in seinen Büchern mit meisterhaft knapper und einprägsamer Sprache existenzielle Probleme behandelt, in Paris geboren.
Nachdem sein Vater, der aus katholischer Familie stammte und einen Lehrstuhl für Römisches Recht an der Juristischen Fakultät von Paris innehatte, 1880 früh verstorben war, lag die puritanische Erziehung des einzigen Sohnes in den Händen von dessen Witwe, einer strengen Frau, die von ihrer eigenen Mutter in einem unbeugsamen calvinistischen Geist erzogen worden war. Die strenge Erziehung, die André Gide von ihrer Seite erfuhr und in der er rückblickend nur "Finsternis, Hässlichkeit und Heimtücke" sah, sollte später in seinem literarischen Werk, in dem sich die Angst vor einem Sündenfall und die Suche nach Glück oft gegenüberstehen, immer wieder ihren Nachklang finden.
Kreis der Symbolisten#
Vom Zwang zur Erwerbsarbeit durch das Familienvermögen befreit, verfolgte André Gide nach der Schulzeit sofort das Ziel, Schriftsteller zu werden. Zwar war sein 1891 auf eigene Kosten veröffentlichtes erstes Buch "Les Cahiers d’André Walter" (Die Tagebücher des André Walter) - in dem er in Form eines postum aufgefundenen Tagebuchs den Weg des jungen André Walter nach der gescheiterten Liebe zu einer Frau in den Wahnsinn beschreibt - kein kommerzieller Erfolg, brachte ihm aber den Kontakt zum wichtigen Zirkel der symbolistischen Autoren in Paris ein. Mit Stéphane Mallarmé stand er fortan ebenso in Kontakt wie mit anderen berühmten Literaten seiner Zeit, etwa mit Henri de Régnier, Maurice Barrès, Maurice Maeterlinck oder Oscar Wilde.
Seiner Homosexualität war sich André Gide schon früh bewusst. Oft ging er mit Freunden auf Reisen, so etwa 1893/94 und 1895 nach Nordafrika, wo er sich leidenschaftlich seinen homosexuellen Neigungen hingab und auch wieder mit Oscar Wilde zusammentraf, den er schon 1891 kennengelernt hatte. Nach dem Tod seiner bestimmenden Mutter heiratete Gide 1895 seine Cousine Madeleine Rondeaux und reiste auch mit ihr durch Europa und Afrika. Die "Scheinheirat" mit der Verwandten hatte er schon lange ins Auge gefasst. Obwohl die Beziehung scheiterte, nachdem er 1917 ein Verhältnis mit seinem zukünftigen Sekretär - dem später bekannten Filmregisseur Marc Allégret - eingegangen war, blieb das Paar, das fortan meist getrennt lebte, bis zum Tode Madeleines im Jahr 1938 verheiratet. Die Beziehung mit Madeleine Rondeaux bezeichnete Gide später als "die verborgene Tragödie" seines Lebens.
In seinem Traktat "Corydon" - 1911 zuerst erschienen und 1920 als Privatdruck und dann 1924 komplett unter Nennung des Autors -, in dem er die fiktionale literarische Form des Dialogs mit nichtfiktionalen Inhalten verquickt, machte Gide seine Homosexualität öffentlich und bekannte sich auch zur präferierten Knabenliebe.
Glück in jeder Form#
1897 veröffentlichte er "Les nourritures terrestres" (Uns nährt die Erde), eines seiner bekanntesten Werke, an dem er seit seiner ersten Afrikareise gearbeitet hatte. Darin weist er jegliche Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen zurück, verneint den Gegensatz von Gut und Böse und verherrlicht das Streben nach Sinnenlust, rauschhaften Genuss und Lebensglück in jeder Form. Das formal in einer Mischung aus Lyrik und hymnischer Prosa verfasste Buch ist eine Art hedonistische Programmschrift, die sofort nach ihrem Erscheinen einen großen Einfluss auf die Jugend ausübte und ihm Gefolgschaft unter der jungen Literaten- und Künstlergeneration sicherte. Diese epochemachende Schrift lieferte auch das Lebensmotto, dem Gide ein Leben lang folgte: "Denken und trotzdem glücklich sein."
Seinen literarischen Ruhm errang André Gide - der sich als Verfasser von Erzählungen, Romanen, Dramen, Gedichten, Tagebuchaufzeichnungen, Reisebeschreibungen, Übersetzungen und Essays als Meister fast aller literarischer Formen präsentierte - vor allem als Tagebuchschreiber. Was viele Schriftstellerkollegen und Leser seiner Zeit faszinierte, war die geradezu atemberaubend aufrichtige Selbsterforschung in diesen autobiografischen Schriften. Zwischen Proteststürmen und hymnischer Begeisterung lag die Aufnahme seiner Tagebücher "Stirb und werde", von "Et nunc manet in te" oder "Intimes Tagebuch", die ihm schließlich die große Bewunderung sowie literarischen Ruhm brachten und ein wichtiges Zeugnis für das zeitgenössische literarische Frankreich wurden.
"Ich weiß im Übrigen, wie sehr ich mir damit schade, dies und alles Folgende zu erzählen; ich sehe voraus, wie man es gegen mich wird verwenden können. Aber mein Bericht hat nur Sinn, wenn er der Wahrheit entspricht", schrieb Gide in dem 1920 erschienenen Band "Stirb und Werde" programmatisch. Die Singularität von Gides Tagebuchwerk hob der Literaturwissenschafter Hans Mayer hervor: "Die Tagebücher Thomas Manns und Kafkas und Musils sind notwendig, um das epische Werk entstehen zu machen. Das Tagebuch André Gides hingegen, ist das Werk selbst. Nicht allein, weil Gide jedes Moment seines Erlebens durch Menschen, Landschaften, Kunstwerke und Bücher zu nutzen wußte für die literarische Arbeit, hinter welcher alles andere zurückzutreten hatte. (...) Gide schrieb sein Tagebuch von früh auf mit dem Ziel, dies von Tag zu Tag Niedergeschriebene so zu redigieren, daß es unmittelbar als sprachliches Kunstwerk veröffentlicht werden konnte."
Auch im Großteil seines erzählenden literarischen Werkes ist das Tagebuch als Darstellungsmittel allgegenwärtig. Mit Büchern wie "Der Immoralist" (1902), "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" (1907), "Die enge Pforte" (1909) und "Die Schule der Frauen" (1929) - um nur einige der bekannteren zu nennen - erregte er regelmäßig das Interesse der literarischen Öffentlichkeit.
Werk der Moderne#
Als bahnbrechendes Werk der Moderne gilt der 1925 erschienene Roman "Die Falschmünzer" - das einzige Erzählwerk, das Gide selbst als "Roman" bezeichnet hat -, in dem er eine Gruppe junger Pariser Gymnasiasten beschreibt, die der Scheinwelt der Elternhäuser entfliehen und eigene Wege auf dem Gebiet der Moral, der Kunst, der Erotik beschreiten wollen. Sein mit mehr als einer Million gedruckten Exemplaren und rund 50 Übersetzungen zu Lebzeiten zahlenmäßig erfolgreichstes Werk wurde "Die Pastoralsymphonie" (1919), die Geschichte eines Pastors, der ein blindes Waisenmädchen bei sich aufnimmt, sich in sie verliebt, sie aber am Ende an seinen Sohn verliert.
Als Herausgeber der Zeitschrift "La Nouvelle Revue Française", die bald zur wichtigsten Literaturzeitschrift Frankreichs wurde, entwickelte sich Gide ab 1909 zu einem tonangebenden Literaten seiner Zeit, zu einer Art Literaturpapst, der das literarische Leben im Land in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich mitbestimmte und dessen Ruhm von Jahr zu Jahr wuchs. Durch die Modernität seiner Prosa zog er jüngere, kommende französische Autoren wie Albert Camus oder Jean-Paul Sartre ebenso in seinen Bann wie Klaus Mann, der mit seinem im amerikanischen Exil 1943 veröffentlichten Buch "André Gide und die Krise des modernen Denkens" sein erster deutscher Biograph werden sollte und in ihm den paradigmatischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts sah.
Gides vorübergehende Sympathien für den Kommunismus - 1932 war er der kommunistischen Partei Frankreichs beigetreten - endeten 1936 nach einem desillusionierenden Aufenthalt in der Sowjetunion. Die Normierung und Entmündigung des Menschen durch die kommunistische Ideologie waren nichts für jemanden wie Gide, der unter den bürgerlichen Konventionen gelitten und sie gesprengt hatte und der unter Emanzipation immer die Emanzipation des Individuums, das Lebensglück des Einzelnen verstand.
Von UdSSR enttäuscht#
Im schmalen Band "Zurück aus Sowjetrussland" (1936) rechnete Gide, der noch im Juni 1935 als Hauptredner und Ehrenvorsitzender des in Paris tagenden Kongresses zur Verteidigung der Kultur vehement für die Sowjetunion eingetreten war, dann auch ohne Rücksicht auf sich selbst in strenger Analyse des Gesehenen mit seinem zeitweiligen Irrtum ab: "Ich kam als überzeugter und begeisterter Anhänger nach Russland, willens und bereit, eine neue Weltordnung zu bewundern, und man versuchte mich mit all den Vorteilen und Privilegien zu gewinnen, die ich an der alten Weltordnung verabscheue."
1947 wurde André Gide für sein, so die Begründung des Nobelpreis-Komitees, "umfassendes, künstlerisch bedeutendes Werk, in dem menschliche Probleme und Verhältnisse mit unerschrockener Wahrheitsliebe und scharfem psychologischem Blick dargestellt werden", mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. 1951 starb Gide in Paris. Im Jahr nach seinem Tod wurden die Werke des Autors, der sich zeit seines Lebens für das Recht des Individuums auf Verwirklichung seiner Persönlichkeit eingesetzt hatte, von der katholischen Kirche auf den Index verbotener Bücher gesetzt. In einem offiziösen Artikel des "Osservatore Romano" wurde der Bann damit begründet, dass Gide, obwohl "von der Geburt bis zum Tode innerhalb des Christentums lebend", sich doch immer als "vollbewusster Christenfeind" verhalten habe.
Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer.