Der Weltangstschrei (Essay, um 1930)#
Von Hans PragerEs gibt eine tiefsinnige Legende (oder wie man sie nennen mag) von Popper-Lynkeus, die das Erlebnis zweier Menschen auf der Landstraße in mitternächtiger Stunde schildert. In dieser großen Einsamkeit vernehmen lebendige Seelen die schaudervolle Klage der leidenden Kreatur, die sich in einem ungeheuren Schrei – in Jahrmillionen gesammelt und von allen Richtungen der Erde kommend – entlädt: der Weltangstschrei des zum Entstehen und Vergehen bestimmten empfindenden Daseins. Der Mensch und das Tier, vielleicht auch die Pflanze, quälen sich, martern einander und werden gepeinigt von den unzähligen Waffen des Schicksales, und all’ dies unmeßbare Leid ballt sich einmal, in einer okkulten Sekunde, zusammen und dröhnt in einem Klageruf von der Erde zum Himmel. An diese Vision eines Philosophen, der in die Dinge hineinsah, wird man erinnert, wenn man von einem ergreifenden Begebnis vernimmt, das sich kürzlich im Budapester Tiergarten zugetragen hat. In dieses Gefängnis war vor einiger Zeit ein Menschenaffe, ein Orang-Utan, gebracht worden. Man führte den „Goliath“ mit seinem Weibchen nach Europa in die Gefangenschaft. Die Äffin brachte dann ein Junges zur Welt, das aber bald nach der Geburt starb. Jedoch auch das Weibchen erkrankte nach der Niederkunft und konnte nicht gerettet werden. So blieb das alte Vatertier vereinsamt zurück und von da an begibt sich etwas Erschütterndes: der Orang singt täglich Töne der Sehnsucht und Klage in die Welt hinaus. Am Gitter stehend, mit ausgebreiteten Armen und erhobenem Kopf singt das Tier, die Menschen schauen und hören zu, die Gelehrten machen ihre Beobachtungen, denn sie erleben eine wissenschaftliche Sensation: glaubte man doch vor nicht allzulanger Zeit an die völlige Stummheit dieses Menschenaffen und weiß nun, daß auch diese Tiere ihren Empfindungen lauten Ausdruck zu geben vermögen. Endlich: der gequälte Orang nimmt fast gar keine Nahrung zu sich und wird wohl bald an seinem seelischen Leid körperlich zugrunde gehen...
Der Mensch kommt oft in die Lage, das Leid der Tiere zu sehen, zu hören und zu verstehen. Ja, er ist oft hilfreich und steht der armen Kreatur bei. Was aber hier so aufregend, ja fast aufreizend wirkt, ist, daß es sich um ein gefangenes Tier handelt, dem der Mensch und das Ungefähr alles nahm, was es einst besessen: die Freiheit, die Verbindung mit seinem Stamm und endlich die Familie. Vielleicht wäre das Weibchen mit seinem Jungen auch in der freien Natur eingegangen und die Gefangenschaft mag daran nicht schuld sein. In der Freiheit aber hätte der vereinsamte Vater doch noch den Stamm gehabt, zu dem er gehört. Und wenn Menschen so oft auch nach den schwersten Schicksalsschlägen sich aufraffen und ein neues Leben aufzubauen verstehen, so wird man es wohl dem Orang nicht verargen, wenn er im Urwald sich wieder eine Gefährtin genommen hätte und so am Leben bleiben würde. In der Gefangenschaft aber ist ihm das verwehrt, und so stirbt der Affe am Menschen.
Nicht billige Humanitätsduselei führt zur Forderung, daß man die Tierwelt möglichst in Ruhe lasse; nur der Europäer sieht darin etwas Besonderes, was z.B. dem Inder selbstverständlich ist. Kein Mensch wird verlangen, daß man sich einem wilden Tiere wehrlos preisgebe und daß man die schrankenlose Vermehrung der zur menschlichen Nahrung bestimmten Tiere zulasse. Man soll dieses Ereignis nicht zum Anlaß für einen billigen Romantizismus nehmen, der die Wirklichkeit nicht erträgt. Hier aber liegt doch ein Fall aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier vor, der sehr zum Nachdenken Anlaß gibt. Ist die Einkerkerung wilder Tiere in zivilisierten Ländern für Wissenschaft und Leben wirklich so nötig? Dienen diese Geschöpfe wirklich nur der wissenschaftlichen Beobachtung und nicht vielmehr der Schaulust der Menge? Und wenn schon jetzt die Wissenschaft das und jenes am gefangenen Tier festzustellen vermag, kann man im Allgemeinen diesen Beobachtungen, die am verfälschten Objekt gemacht werden, besonderen Wert zusprechen? Ist nicht bekannt, daß viele Gefangene zoologischer Gärten elend zugrunde gehen müssen, weil das Publikum sie aus Sensationslust zu Tode füttert oder sonst sie reizt und beschädigt? Wäre dieser Affe „Mitglied eines Zirkus“, dann könnte es passieren, daß er mit Peitschenhieben gezwungen würde, an der allabendlichen Vorstellung „mitzuwirken“. Die Grenzen zwischen zoologischen Garten und Wanderzirkus fließen vielfach ineinander über und der Unterschied zwischen beiden besteht oft nur darin, daß man dort Tiere eingesperrt hält, sie aber dafür in Ruhe läßt (wenn das Publikum es will!), sie hier jedoch zu sinnlosen Künsten zwingt.
Ich weiß nicht, ob der problematische Wert von Tierschaustellungen für die Jugenderziehung schon einmal zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht wurde. Gewiß ist, daß besonders die Verwendung von an die Freiheit gewöhnten Tieren zu Zirkuszwecken keineswegs pädagogisch wertvoll ist. Auch der Anreiz, der der Jugend gegeben wird, durch die Gefangenschaft hilflos gewordene, sonst mächtige Tiere zu reizen, ist vom erzieherischen Standpunkte aus schädlich. Man sollte überhaupt einmal diesen ganzen Fragenkomplex ernst und sachlich besprechen, sollte trachten festzustellen, was z.B. die Gefangenhaltung eines Adler oder Löwen für Wert hat? Gewiß ließe sich da vieles pro und contra sagen, aber es wäre doch gut, wenn einmal die Einrichtung der Tiergärten und mit Tieren arbeitenden Zirkussen untersucht würde, insbesondere nach ihrer wissenschaftlichen, nach ihrer sozialpädagogischen und nach ihrer jugenderzieherischen Seite hin.
Noch eines ist zu beachten: wieviel an nationalem Gut verschlingen die zoologischen Gärten? Was muß die in wirtschaftlicher Not sich quälende Menschheit, besonders der deutschen Kultur, an Leistungen aufbringen, um wilde Tiere zu ernähren, damit sie unserer Schaulust dienen? Sind in solchen Zeiten, wie wir sie jetzt mitmachen, derartige Ausgaben gerechtfertigt? Und endlich: wie muß einem Hungernden zu Mute sein, wenn er sieht, daß wilden Tieren kiloweise das Fleisch hingeworfen wird? Wenn wir Stier- und Hahnenkämpfe als tierquälerisch ablehnen, sind wir so berechtigt hiezu? Leiden nicht ebensosehr die Tiere durch uns, wenn wir sie einkerkern oder zu sinnlosen Kunststücken zwingen? Man sieht, es gibt hier eine Menge von Fragen, die nicht ohne weiteres als belanglos und nicht untersuchungswürdig angesehen werden dürfen.
Der klagende Menschenaffe von Budapest klagt vor allem die Menschen an und diese wieder fühlen das gar nicht. Aller Witterungsunbill zum Trotz sammelt sich die schaulustige Menge vor dem Käfig und genießt die Sensation, die ihr das gequälte Tier verschafft. Die Psychologie hat ihre zwei Seiten. Mag es für die wissenschaftliche Tierpsychologie von Wert sein, wenn sie den außerordentlich seltenen Fall eines aus Trauer singenden Menschenaffen beobachten darf, so ist andrerseits die Auswirkung dieses Ereignisses auf die Psyche der Menschen keineswegs erfreulich. Und von da an rollt sich überhaupt das Problem des pädagogischen Wertes der Tiergefängnisse und der Tierschaustellungen auf. Es fragt sich, ob man mehr gewinnt oder mehr verliert, wenn man „Tiere in Ketten“ hält! Dies wäre nach allen Seiten hin zu untersuchen, weshalb hier diese Anregung gegeben sei. –
Der Weltangstschrei! Wir fürchten uns vor den wilden Tieren – natürlich mit Recht – und sperren sie ein, damit ihr Schrei der Angst vor uns unsere Schwäche in einen falschen Stolz verwandle. Ein loser Gitterstab, eine weit herausreichende Pranke – und die massig zusammengeballte Menge stiebt auseinander. Ein junger Löwe, neugierig in den Straßen spazierend, vermag mehr als das tobendste Unwetter. Er fegt die Straßen von Menschen rein. Unsere Angst vor uns selbst, vor den Nebenmenschen, vor der Tierwelt und der unbelebten Natur wird nicht bloß zur Klage, die wir ausstoßen, sondern auch zu einer Anklage, die uns entgegengeschleudert wird. Das ist der tiefere Sinn, den uns die Trauer dieses vereinsamten Orangs aus Budapest lehrt. Wir sind heute so sehr beschäftigt, die körperliche und seelische Erziehung der Jugend in neue, gesunde Bahnen zu lenken, wollen sie mit vollem Recht von der Angstpsychose freihalten, die ein Zeichen der Dekadenz ist. Wir sollen und müssen also dafür sorgen, daß das Maß der Angst in der Welt geringer, daß das laute Dröhnen des „Weltangstschreies“ schwächer werde. Wir aber bestätigen unsere Angst, indem wir die wilden Tiere einkerkern und weiden uns an der trauervollen Angst, die sie vor den unbekannten Mächten empfinden, zu deren Handlangern wir uns selbst machen.