Ein Beobachter im Auge des Orkans#
Seine Bücher wurden von den Nationalsozialisten verbrannt, er emigrierte aber nicht, sondern schrieb in sein „Blaues Buch“. Erich Kästners Tagebücher 75 Jahre nach Kriegsende.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (9. Jänner 2020)
Von
Stefan Neuhaus
Blaue Briefe bekommt man nicht gern. Sie signalisieren beispielsweise, dass schulische Leistungen im roten Bereich angekommen sind. Ein „blaues Buch“ ist etwas anderes, auch wenn es durchaus Unerfreuliches für diejenigen enthielte, vor denen es verborgen bleiben sollte und glücklicherweise auch verborgen blieb. Erich Kästner führte während der Zeit des Zweiten Weltkriegs ein Tageund Notizbuch, das wegen seines blauen Einbandes nun auch im Titel seiner beiden Veröffentlichungen so genannt wird. In einer heute ungebräuchlichen Stenografen- Handschrift verfasst, dauerte es bis zum Erscheinen der Werkausgabe 1998, dass zunächst Auszüge veröffentlicht werden konnten. 2006 folgte eine Edition des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Rahmen der Nr. 111/112 des Marbacher Magazins, 2018 kam eine erweiterte Neuausgabe im Züricher Atrium-Verlag heraus. Er war 1935 eigens gegründet worden, um Kästners Werke im Ausland weiter verlegen zu können – zumindest bis zum bald darauf erfolgten Berufsverbot des Autors.
Gut vernetzt #
Kästner-Kenner wissen, dass der Autor 1933 nicht emigrierte, obwohl seine Bücher zu jenen gehörten, die ins Feuer geworfen wurden. Kästner sah sogar, als er zufällig vorbeikam, die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz mit eigenen Augen. Sven Hanuschek verweist, das Verbleiben in Deutschland betreffend, in seiner Einführung zum vorliegenden Band auf die von Kästner selbst immer wieder ins Spiel gebrachte Begründung, er habe Augenzeuge sein und über die Zeit später einen Roman schreiben wollen, ebenso auf die enge Bindung an die in Dresden lebenden Eltern.
Oft gibt es ja auch multikausale Antworten. Vier weitere Gründe könnte man noch anführen. Erstens: Kästner glaubte fälschlicherweise nicht daran, dass die Deutschen so dumm sein und eine solche Regierung lange dulden würden. Zweitens: Seine Fremdsprachenkenntnisse waren mehr als mäßig und er wollte die Grenzen seiner Muttersprache nicht verlassen. Drittens: Kästner stand gerade im Zenit seines jungen Erfolges – 1931 war der Roman „Fabian“ erschienen, das „Spiegelbild einer Generation“ (Hilde Spiel), im selben Jahr kam die auch im Ausland erfolgreiche Verfilmung von „Emil und die Detektive“ ins Kino, noch 1933 erschien „Das fliegende Klassenzimmer“, von anderen sehr erfolgreichen Werken (etwa den vier Lyrikbänden) ganz zu schweigen. Viertens: Kästner war, wie man heute sagen würde, extrem gut vernetzt. Die vielen Kontakte retteten ihm wohl das Leben, nicht nur, wenn man an 1945 denkt: Als Teil einer Filmcrew konnte Kästner mit seiner Lebensgefährtin Luiselotte Enderle im Tiroler Zillertal das Kriegsende erwarten, während die Bomben der Alliierten auch auf seinen Wohnort Berlin fielen. Kästner hätte, trotz Schreibverbots, den Auftrag für das Drehbuch zu dem Ufa-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ (1943) nicht bekommen, wenn nicht der Propagandaminister persönlich die Hand über ihn gehalten hätte. Goebbels war wie Kästner promovierter Germanist und wusste trotz ideologischer Vorbehalte Qualität zu schätzen.
Ob man Kästner nun der sogenannten Inneren Emigration zurechnet oder nicht, bleibt dem eigenen Standpunkt überlassen. Er veröffentlichte illegalerweise unter den Pseudonymen von Freunden Theaterstücke, schrieb ebenso verbotenerweise an Filmdrehbüchern mit und notierte Kritisches gegen das Regime in seinem Blauen Buch, das ihn vermutlich, wenn es gefunden worden wäre, ins KZ gebracht und das Leben gekostet hätte. Für historisch Kundige dürfte es schwer zu begreifen sein, dass Kästner auch in diesem Tage- und Notizbuch einen Ton pflegt, der oft wenig ernsthaft ist und zwischen Humor und Zynismus schwankt. Kästner ist der distanzierte Beobachter mitten im Auge des Orkans, wohl durchaus im Bewusstsein, dass ein Schritt in die falsche Richtung ihn mit in den Wirbel reißen würde. Galgenhumor wäre vielleicht die beste Bezeichnung für Notate wie die folgenden: „Ein neuer Witz: ‚Der Krieg wird wegen seines großen Erfolgs verlängert.‘“ Oder: „Ein Lehrer gibt das Thema zum Klassenaufsatz: ‚Hätte sich Werther auch im Dritten Reich erschossen?‘ Der kleine Fritz gibt schon nach fünf Minuten das Heft ab. Was hat er geschrieben? ‚Nein, aber Goethe!‘“
Parallelen zur Gegenwart #
Es ist die Frage, ob es sich Kästner zu einfach macht, wenn er nach Kriegsende notiert: „Ich bin einer der ganz wenigen, die für die Nazis nicht gearbeitet haben, und doch bringt man mir ein gerüttelt Maß Misstrauen entgegen.“ Kästner würde vermutlich, wenn wir ihn noch fragen könnten, seine Arbeit am Drehbuch für „Münchhausen“ – immerhin damals der aufwändigste deutsche Film aller Zeiten – als Versuch rechtfertigen, die Zensur zu umgehen. Heinrich Detering und andere haben darauf aufmerksam gemacht, wie deutlich gegen das Regime das Konzept und viele Stellen des Filmdrehbuchs gerichtet sind. Wer nicht zeitweise in einer solchen „geschlossenen Gesellschaft“ gelebt hat, wird nur ein begrenztes Verständnis dafür entwickeln können, was es heißt, mit der Angst vor dem Verlust der eigenen Lebensgrundlage und letztlich auch des eigenen Lebens umgehen zu müssen.
Den großen Roman über den Nationalsozialismus schrieb Kästner bekanntlich nicht und es klingt plausibel, wenn Hanuschek die Blockade mit dem Schock über den Holocaust in Verbindung bringt. Der 1961 veröffentlichte Band „Notabene 45“ mit überarbeiteten Auszügen aus dem Blauen Buch wird von Hanuschek differenziert charakterisiert als, angesichts der starken und vom Autor verschwiegenen Überarbeitung, inhaltlich nicht unproblematisch und zugleich als formal avantgardistisch, auf die kommende Welle der Dokumentarliteratur vorausweisend. Kästner war, so könnte man zusammenfassend sagen, eben immer zuallererst Schriftsteller. Er sah das Leben durch die Brille der Kunst.
Die zahlreichen faksimilierten Dokumente, die im Blauen Buch einlagen, und die ebenfalls aufgenommenen Notizen für zwei mögliche Romane ergänzen einen Band, der einen faszinierenden Einblick nicht nur in die Zeit, sondern auch in den seelischen Haushalt eines der bekanntesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts gewährt. Parallelen zur Gegenwart dürfen, schließlich handelt es sich um Literatur, jederzeit gezogen werden. Etwa wenn es mit Datum 16. 6. 1945 heißt: „Ein besonderer psychologischer Essay wird eines Tages über die fatalistische herdenmäßige Dulderfähigkeit und Geduldausdehnbarkeit im deutschen Volk zu schreiben sein.“ Gegenüber einem totalitären Regime wohlgemerkt, in dem sich ‚Wutbürger‘ leicht integrieren ließen und auf Minderheiten, auf Schwächere losgelassen werden konnten. Die Lektüre des Blauen Buches kann vielleicht ein bisschen dazu beitragen, uns gegen Tendenzen zu imprägnieren, auch heute wieder Sündenböcke auszumachen und Menschen zu verfolgen, nur weil sie nicht blauäugig jedem folgen, der ihnen das Blaue vom Himmel verspricht.
Der Autor ist Professor an der Universität Koblenz-Landau.
Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945
Von Erich Kästner
Hg. von Sven Hanuschek,
Ulrich von Bülow und Silke Becker
Atrium 2018
405 S., geb., € 32,90