Brosamen von Goethes Tisch#
Franz Grillparzers "Selbstbiographie" ist in einer sorgfältigen Neuedition erschienen. Sie lädt nachdrücklich dazu ein, diesen halb vergessenen österreichischen Klassiker wieder zu entdecken.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 10. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Hermann Schlösser
Im Jahr 1826 besuchte Franz Grillparzer den hochverehrten Johann Wolfgang von Goethe in Weimar. Der österreichische Dramatiker war damals 35 Jahre alt und hatte sich schon weit über Wien hinaus einen Namen gemacht. In seiner "Selbstbiographie", die nun wieder greifbar ist, schildert Grillparzer seine Begegnung mit dem jovialen Olympier: "Ich saß bei Tisch an seiner Seite und er war so heiter und gesprächig, als man ihn, nach späterer Versicherung der Gäste seit langem nicht gesehen hatte. Das von ihm belebte Gespräch ward allgemein. Göthe wandte sich aber auch oft einzeln zu mir. Was er aber sprach, außer einem guten Spaß über Müllners Mitternachtsblatt, weiß ich nicht mehr."
Es ist kaum zu glauben, dass ein Goethe-Bewunderer von dem Gespräch mit seinem Idol nichts anderes behalten haben sollte als einen "guten Spaß" über irgendeine Zeitung. Aber so steht es zu lesen in der Autobiographie, die Grillparzer in den Jahren 1853 und 1854 verfasst hat. Und dort erfährt man noch etwas Erstaunliches: Goethe hat den Gast zu einem Treffen unter vier Augen geladen, aber Grillparzer ist - in einer für ihn typischen Kombination aus Schüchternheit und Bockigkeit - zum vereinbarten Termin nicht erschienen.
Gewiss war dieser österreichische Dramatiker kein einfacher Mensch. Auch seine Autobiographie musste ihm geradezu entlockt werden. Die Wiener Akademie der Wissenschaften lud ihn ein, seinen Lebensweg aufzuschreiben. Erst nach der dritten Aufforderung war der zweiundsechzigjährige Grillparzer schreibwillig und schilderte seinen Lebensweg vom Geburtsjahr 1791 bis ins Jahr 1836. Was danach kam, behandelte er nicht mehr. Auch der kränkende Misserfolg seiner Komödie "Weh dem, der lügt", der 1838 dazu führte, dass sich Grillparzer aus der Welt des Theaters zurückzog und von da an nur noch für die Schublade produzierte, blieb unerwähnt. Arno Dusini, einer der Herausgeber der Neuausgabe, zitiert in seinem Nachwort Grillparzers Begründung für diese Beschränkung: "Später", so schrieb er, "hätte ich über andere schreiben und anklagen müssen." Man könnte nun vermuten, Grillparzer habe aus Rücksicht auf die Würde des Auftraggebers unschickliche Anklagen vermeiden wollen. Doch er hat das fertige Manuskript der Akademie niemals übergeben. Es wurde erst in seinem Nachlass entdeckt. Die jetzige Neuausgabe folgt bis in die eigenwillige Orthographie hinein dieser Handschrift.
1967 erschien die Monographie "Das abgründige Biedermeier" von Heinz Politzer. Diese feinfühlige Werkanalyse ist nach wie vor lesenswert, denn sie stellt Grillparzer als einen Autor vor, dessen psychologische Einsichten sehr viel moderner sind als die klassizistische Form seiner Dramen glauben macht. Aber nicht nur der Germanist, auch der Dichter selbst war sich dieser Innenspannung bewusst. In seiner Autobiographie denkt Grillparzer selbstkritisch über seine Arbeit nach. Seine Trilogie "Das goldene Vlies" zum Beispiel gilt ihm als misslungen, und zwar weil die Trilogie als solche "eine schlechte Form" für das Theater sei: "Das Drama ist eine Gegenwart, es muß alles was zur Handlung gehört in sich enthalten. Die Beziehung eines Theiles auf den anderen gibt dem Ganzen etwas Episches, wodurch es villeicht an Großartigkeit gewinnt, aber an Wirklichkeit und Prägnanz verliert." Bezeichnend für Grillparzers Schaffen ist jedoch, dass er sich - als folgsamer Epigone der Klassik - der untauglichen Form fügt, weil sie von der großen Tradition erzwungen wird.
Geist und Ärger#
Seiner Selbstdeutung entsprechend, lebten in Grillparzer "zwei völlig abgesonderte Wesen. Ein Dichter von der übergreifendsten, ja sich überstürzenden Phantasie und ein Verstandesmensch der kältesten und zähesten Art." In seinen Dramen kam die Phantasie zu ihrem Recht, die "Selbstbiographie" stammt vom Verstandesmenschen - der allerdings auch über einen beträchtlichen Kunstverstand verfügt.
Hier zeigt sich also ein hochgebildeter, konservativer Kopf, der über Kunst und Philosophie geistvoll nachdenkt, während er auf die Begebenheiten des Alltags meist missmutig reagiert. Von einem Berlinbesuch berichtet er: "Man wollte mich in die Theezirkel eines Ministers, Stägemann, glaub’ ich, hieß er, einführen, was ich aber ablehnte, weil ich weder den Thee noch die Minister liebe." Und zu einer Audienz bei dem mächtigen Wiener Kulturpolitiker Friedrich von Gentz hat Grillparzer zu sagen: "Noch erinnere ich mich des widerlichen Eindrucks, den die Wohnung des Mannes auf mich machte. Der Fußboden des Wart=Salons war mit gefütterten Teppichen belegt, so daß man bei jedem Schritte wie in einem Sumpf einsank und eine Art Seekrankheit bekam."
Das "Abgründige" besteht aber vor allem darin, dass der studierte Jurist, der im Brotberuf Beamter war, die penible Strenge der österreichischen Obrigkeit im Geheimen zwar ablehnte, sich aber niemals gegen sie auflehnte. Wie er selbst schildert, unternahm er lange Reisen nach Italien und Deutschland, um dem bleiernen Stillstand im restaurativen Österreich zu entkommen. Aber als "treuer Diener seines Herrn" - gemäß dem Titel eines seiner Dramen - kehrte er immer wieder zurück und befolgte alle Dienstanweisungen peinlich genau.
Allerdings war sein "kalter und zäher" Verstand durch jahrzehntelangen Bürodienst nicht umzubringen. Nachdem sein Drama "König Ottokars Glück und Ende" zwei Jahre lang in einer Schublade der Zensurbehörde geruht hatte, beschrieb Grillparzer in boshafter Anschaulichkeit die Begegnung mit einem "Hofrath der Censurhofstelle": "Er begann das Gespräch mit der damals in Wien stereotypen Frage, warum ich denn gar so wenig schriebe? Ich erwiederte ihm: er als Beamter der Censur müße den Grund wohl am besten wissen. Ja, versetzte er, so seyd ihr Herren! Ihr denkt euch immer die Censur als gegen euch verschworen. Als Ihr Ottokar zwei Jahre liegen blieb, glaubten Sie wahrscheinlich ein erbitterter Feind verhindere die Aufführung. Wissen Sie, wer es zurückgehalten hat? Ich, der ich, weiß Gott, Ihr Feind nicht bin. Aber, Herr Hofrath, versetzte ich, was haben Sie denn an dem Stücke Gefährliches gefunden? Gar nichts, sagte er, aber ich dachte mir: man kann doch nicht wissen."
Grillparzer, der scharfsichtige Kritiker fremder Dummheiten, hatte aber auch die Fähigkeit, sich selbst herunterzumachen. Er stellte diese selbstquälerische Neigung als Familienerbteil dar. Tatsächlich widerlegt die Unglücksgeschichte der Grillparzers gründlich das alte Klischeebildchen vom "gemütlichen Biedermeier": Der Vater Wenzel, Advokat von Beruf, "ein streng rechtlicher, in sich gezogener Mann", starb 1809 in depressiver Verdüsterung. Adolf, der jüngere Bruder des Dichters, ertränkte sich 1817 in der Donau, weil er fürchtete, ein schlechter Mensch zu werden. Die Mutter Anna Franziska, die ihrem ältesten Sohn Franz sehr nah stand, litt an untröstlichem Kummer und nahm sich 1819 das Leben. Grillparzer beschreibt eindringlich, wie er die Tote fand, erwähnt aber nicht, dass sie sich selbst getötet hat. Was er verschwieg, sprach die Bürokratie aus. Im Obduktionsprotokoll des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, das Dusini in seinem Nachwort zitiert, steht lapidar: "Hat sich erhängt."
Dieser grausamen Wahrheit war Grillparzer nicht gewachsen; er verhüllte sie in Andeutungen, wie manches andere, was ihm zu nahe ging. Die Lebenskrise nach dem Misserfolg von "Weh dem, der lügt" musste unbeschrieben bleiben, desgleichen die unentschlossene Liebe zu seiner Dauer-Verlobten und Niemals-Gattin Kathi Fröhlich. Wer über diese heikle Herzensangelegenheit Genaueres erfahren möchte, findet in Politzers Studie viel, in Grillparzers "Selbstbiographie" hingegen fast nichts. Dusini arbeitet einleuchtend heraus, dass diese "Diskretion" zu den wesentlichen Merkmalen von Grillparzers Prosastil gehört.
Kunst der Diskretion#
Nun versteht man auch, warum der Autobiograph nicht mitgeteilt hat, was ihm Goethe seinerzeit am Weimarer Esstisch erzählte. Er wollte das Wesentliche für sich behalten (und falls er es tatsächlich vergessen haben sollte, hätte er es besonders wirksam vor der Neugier der anderen geschützt).
Die Leser seiner Autobiographie speiste Grillparzer mit ein paar Bröseln ab, die beim Essen anfielen. Unter der Schreibhand dieses prägnanten Prosaisten werden sie zum Rohstoff einer kleinen, stummen Szene, die mindestens so aufschlussreich ist wie alles Gesprochene: "Von den Tisch-Ereignißen ist mir nur noch als charakteristisch erinnerlich, daß ich im Eifer des Gespräches, nach löblicher Gewohnheit, in dem neben mir liegenden Stücke Brod krümelte und dadurch unschöne Brosamen erzeugte. Da tippte denn Göthe mit dem Finger auf jedes einzelne und legte sie auf ein regelmäßiges Häufchen zusammen. Spät erst bemerkte ich es und unterließ denn meine Handarbeit."
Information#
Franz Grillparzer SelbstbiographieHrsg. von Arno Dusini, Kira Kaufmann und Felix Reinstadler,
erschienen in der Reihe "Österreichs Eigensinn", hrsg. von Bernhard Fetz.
Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2017, 283 Seiten, €24.