Herman Melville: "Schaurig leer und wüst"#
Der vor 200 Jahren, am 1. August 1819, geborene Romancier gilt heute als einer der bedeutendsten US-Autoren. Im Jahr seines Todes hingegen war er vergessen.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 27. Juli 2019
Von
Alexander Klury
"Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist’s her - unwichtig, wie lang genau -, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen." Dies ist einer der berühmtesten Romananfänge der Weltliteratur, vor allem die ersten drei Worte. Damit setzt der Roman "Moby-Dick" des New Yorkers Herman Melville ein, eines Autors, der zu Lebzeiten kurz bekannt war und dann in ein Vergessen absank, aus dem er erst dreißig Jahre nach seinem Tod wieder auftauchte. Heute gilt er als einer der größten amerikanischen Romanciers.
Sein Vater Allan Melvill war als Kaufmann ein ökonomischer Luftikus, der Schulden mit Darlehen gegenfinanzierte. Als er fallierte und 1832 mit 50 Jahren starb, war Herman 13 Jahre alt. Seine Mutter, einer holländisch-calvinistischen Familie entstammend, hängte ein "e" an den Familiennamen an, vielleicht, um die vielen Schuldner in die Irre zu führen - was wenig nützte. Regelmäßig standen Lebensmittelhändler, Vermieter oder Schneider vor der Tür und trieben die Mutter mehrerer Kinder in die Depression.
Herman erhielt eine mittelmäßige Schulausbildung. Am 3. Jänner 1841 heuerte er das erste Mal auf einem Walfänger an, als einfacher Matrose. Er kehrte Anfang Oktober 1844 heim. Nach anderthalb Jahren an Bord, und das Leben an Bord eines Walfangschiffes war erbärmlich, war er auf einer Insel im Südpazifik desertiert, hatte sich mit einem Freund einige Wochen bei einem Eingeborenenstamm durchgeschlagen, dann auf einem Schiff der U.S. Navy angeheuert.
Er war ohne Ideen von der Zukunft aufgebrochen und mit Stoff für Bücher zurückgekehrt. Im Winter 1844 zog er nach New York und wanderte in der Anwaltskanzlei seiner zwei älteren Brüder von freiem Schreibtisch zu freiem Schreibtisch und schrieb an einem Buchmanuskript, "Typee". Sein Debüt erschien 1846 in London und handelte von einem paradiesisch den Sinnen frönenden Leben auf einer Pazifikinsel. Im Mai 1846 starb der vielversprechendste Melville-Bruder, Gansevoort, und hinterließ familientypisch einen Berg an Schulden. Herman Melville, seit Mitte 1847 verheiratet, schrieb jetzt wie manisch.
Ein Jahr nach "Typee" erschien "Omoo", wieder dick und wieder über Abenteuer in der Ferne. Anschließend verfasste er innerhalb von zweieinhalb Jahren die Romane "Mardi", "Redburn" (ein Kommentar zur Sklaverei in den USA) sowie "White-Jacket" und die ersten Kapitel von "Moby-Dick". Die Bücher erhielten immer weniger Zuspruch und wucherten aus.
Ein Kritiker böse: "Verquaste Rhapsodie". Melville, aufs Land gezogen, in die Berkshires im Bundesstaat New York, weiterhin hoch verschuldet, steigerte sich in elaborierte Worträusche, in Kaskaden von Sätzen, voll offener und versteckter Anspielungen. Und er nahm ein Prinzip der literarischen Moderne vorweg, den Bewusstseinsstrom des Autors ohne Selbstzensur. Im Lauf von "Moby-Dick" multipliziert sich Ismael, der Ich-Erzähler, und berichtet allwissend von Dingen, die er gar nicht wissen kann.
In dem Roman mit 44 Charakteren plus vielen Namenlosen sucht Kapitän Ahab den weißen Wal, der ihm vor Jahren ein Bein abgerissen hatte. Er will ihn töten. Das Einbein Ahab, selbstmörderisch und charismatisch, reißt Schiff und Besatzung in den Untergang. Er changiert zwischen Vernunft und rasender Besessenheit: "All meine Mittel sind vernünftig, all meine Gründe und mein Zweck verrückt." Ahabs Welt ist gottlos und böse, Ahab ein Hexer. In dieser Allegorie geht es um Halt, schaurige Haltlosigkeit und Sinnsuche.
Prekäre Verhältnisse#
Ahab zum Ersten Steuermann Starbuck: "Für mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr." Melville schuf mit diesem Roman, gigantisch in Umfang wie in Anspruch und stilistischer Könnerschaft, ein Kunstwerk, das immer wieder neu ausgedeutet worden ist. Im Oktober 1851, nach anderthalb Jahren Arbeit, erschien der Roman. In den nächsten vierzig Jahren sollte Melville in den USA daran 556,37 Dollar verdienen. Seine Verleger in New York und in London zögerten immer mehr, Bücher von ihm anzunehmen.
Nach "Moby-Dick" erschienen noch drei Romane. "Pierre: or, The Ambiguities" im August 1852. Das Werk wurde von der Kritik verrissen. John Updike meinte, das Buch habe "ständig Fieber". Die Kritikerin Elizabeth Hardwick im Jahr 2000: eine überdrehte Burleske, Seiten, die sich endlos hinziehen, mit unglaublichem Schwadronieren und Liebesszenen, die einer trägen, im Fenster lungernden Schaufensterpuppe kitschige Sätze in den Mund legen.
Die Lektüre mutet irr und wirr an. Es ist eine Art Éducation amoureuse in Form des damals gefragten Schauerromans. Man weiß aber nicht recht, ob es nicht zugleich eine Persiflage davon ist. "Israel Potter" wiederum handelt von einem alten Soldaten, der von seinem Land fallengelassen wird. Bei "The Confidence-Man" handelt es sich um ein "Maskenspiel". Es geht um Verstellung und Betrug an Bord eines Mississippi-Dampfers. 1856 erschienen unter dem Titel "The Piazza Tales" Erzählungen, die Melville für Magazine geschrieben hatte, darunter "Benito Cereno" und "Bartleby der Schreiber", die minimalistische Geschichte um Verweigerung ("Ich würde lieber nicht"), Trauma und Rückzug.
Damit war Melvilles Karriere als Erzähler vorbei. Er unternahm noch eine längere Reise durch Europa und Palästina. Aber er war müde, erschöpft, gelangweilt von sich und der Welt. Zurück in Amerika, versuchte er sich als Vortragsredner, aber scheiterte. Um die prekären Geldverhältnisse in den Griff zu bekommen, sprach er bei Politikern vor. Er träumte von einer Stelle im konsularischen Dienst in einer sonnigen Stadt im Ausland. Es wurde aber etwas anderes.
Im Dezember 1866 meldete sich Melville, Herman zum Dienst als Zollinspektor Nr. 75 beim Zollamt der Vereinigten Staaten im Hudson-River-Hafen in New York. Seine Arbeitszeit: Montag bis Samstag. Sein Verdienst: pro Tag vier Dollar. Kurz zuvor hatte er einen ersten Gedichtband, "Battle-Pieces and Other Aspects of the War", herausgebracht, in ganz kleiner Auflage, der Druck bezahlt von Verwandten. Es sollten noch drei Lyrikbände folgen, einer weniger gelesen als der nächste.
Zog er sich, so der lang genährte Mythos, ins Schweigen zurück? War Melville ein untergegangener Roman-Kontinent? Nicht ganz. 1867 - also in jenem Jahr, in dem seine Ehe den Tiefpunkt erreichte und in dem sich sein ältester Sohn zu Hause erschoss (sein zweiter Sohn sollte 1886 einsam und elend in Kalifornien sterben) - begann er "Clarel", ein Poem mit 18000 Gedichtzeilen. Fast neun Jahre schrieb er daran.
Statistisch gesehen: fünf Zeilen jeden Tag. Es ist eine quälende metaphysische Suche eines amerikanischen Studenten, der die "Unfruchtbarkeit Judäas" bereist. Im Heiligen Land geht die Hauptfigur gegen die unheilige Leere an - so wie der Zollinspektor Melville abends am Schreibtisch, mit seinen chronischen Rückenschmerzen und massiven Stimmungsschwankungen.
Während er im Januar 1876 über den Korrekturfahnen saß, schrieb Ehefrau Lizzie in einem Brief, Herman "befindet sich in einer so furchtbaren geistigen Verfassung & ist gerade jetzt zusätzlich so sehr belastet, dass es mir wahrhaftig angst macht, irgend jemanden hier zu haben, weil ich fürchte, das könnte ihn vollständig aus der Bahn werfen, so dass er nicht mehr fähig wäre, die Drucklegung seines Buchs weiter zu überwachen." Wegen seiner ungebärdigen Manieren bei Tisch - der starke Esser schaufelte Riesenportionen an Erdäpfeln in sich hinein und sprach mit vollem Mund - luden seine Töchter niemanden mehr ein. Im Juni 1876 erschien "Clarel". Auflage: 350 Exemplare. 120 Stück wurden verkauft. 1879 wurde der Rest eingestampft.
Ab 1866 fuhr Melville fast zwanzig Jahre lang sechsmal morgens von seinem Haus mit der Pferdebahn den Broadway hinunter, dann nach Westen, stieg aus und ging durch die Hafenanlagen am Hudson River entlang zur Battery. Später wurde er an einen Pier am East River in Höhe der 79th Street versetzt und fuhr mit der neuen Hochbahn zur Arbeit.
Grausam knapp#
Mit anderen teilte er sich ein Büro in einer Baracke. Seine Aufgabe bestand darin, Sorge zu tragen, dass die Zollgebühren für gelöschte Ladungen bezahlt wurden. Auf Schritt und Tritt begegnete er Korruption. Bei den Kollegen. Bei der Verwaltung. In der Hafen- und Stadt-Politik. Zwei Prozent seines Jahresgehalts musste er an die einflussreiche Republikanische Partei abführen, um seinen Job zu behalten. 1886 konnte er in Pension gehen, seine Frau hatte geerbt. Er begann nach 35 Jahren wieder Prosa zu schreiben. Die Erzählung "Billy Budd" wurde zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht, erst 1921 transkribierte ein Wissenschafter das Manuskript, das 1924 gedruckt wurde. Es ist ein Flickenteppich voller Einschübe, krakeliger Zusätze und Durchstreichungen, alles in schwer entzifferbarer Handschrift.
Dazu pickte Melville, der schwere Arthritis hatte, mit Nadeln oder Klebstoff Zettel an. Der 70-Jährige schrieb nicht mehr ozeanisch. Die Sprache in "Billy Budd" ist grausam knapp. So grausam wie das, was er erzählte: die Exekution eines Unschuldigen durch einen Despoten. Als Melville am 28. September 1891 starb, war er vergessen.
Jahre zuvor hatte er über "Gedankentaucher" geschrieben: "Ich liebe alle, die ‚tief hinabtauchen‘, die seit Anbeginn der Welt immer wieder hinabtauchten & mit blutunterlaufenen Augen wieder emporkamen." Das tat Herman Melville selbst. In "Pierre" findet sich ein Signalsatz: "Schaurig leer und wüst ist die Seele eines Menschen!" Auch deshalb ist dieser radikale Autor uns näher als so viele andere seiner Zeitgenossen, sind seine Romane Elementarbücher der Conditio humana.
Alexander Kluy lebt als Journalist, Kritiker und Autor in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen.
Literatur von Herman Melville:#
- Typee. Erzählung. Übersetzt von Alexander Pechmann. Marebuchverlag, Hamburg 2019, 448 Seiten, 39,10 Euro.
- Mardi. Roman. Übersetzt von Rainer Schmidt. Manesse Verlag, München 2019, 832 Seiten, 46,30 Euro.
- Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen. Essays. Übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2019, 184 Seiten, 22,– Euro.