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Jene unvergessliche Welt#

Gedanken zum 100. Todestag von Scholem Alejchem#


Mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Kulturzeitschift "David" (Nr. 109/2016)

Von

Claus Stephani


Am 13. Mai sind seit seinem Tod hundert Jahre vergangen. Doch liest man in seinen Büchern, ist er wieder unter uns, und mit ihm eine Welt, die einst nicht nur seine war - Scholem Alejchem, der eigentlich Scholem Jankew ben Menachem Nachum Rabbinowicz hieß. Erinnert man sich nun auch an andere große Namen ostjüdischer Schriftsteller, stellt sich unwillkürlich die Frage: Was wäre heute noch da vom Wissen um jene vernichtete und verlorene Welt, die nicht nur in der Erinnerung sondern auch in zahlreichen Erzählungen und Romanen weiterlebt, hätte es diese „Chronisten ihrer Zeit" nicht gegeben?

Denn Scholem Alejchem, Mendele Mojcher Sforim (1835-1917) und Jizchok Leib Perez (1852-1915)-drei herausragende Namen, die zu den Begründern der modernen jiddischen Literatur gehören - haben jener Welt ein literarisches Sprachdenkmal geschaffen, das alle dunklen und braunen Zeiten überdauern konnte. Und 1978 erhielt dann Isaac Bashevis Singer (1902-1991) „als erster und bislang einziger jiddischer Schriftsteller" den Nobelpreis für Literatur „für seine eindringliche Erzählkunst, die mit ihren Wurzeln in einer polnisch-jüdischen Kulturtradition universale Bedingungen des Menschen lebendig werden lässt", wie es in der Begründung der Preisverleihung heisst. Doch was wäre, könnte man nun weiter fragen, wenn es heute nicht auch die Bilder vom jüdischen Alltag in Osteuropa gäbe, die von 1935 bis 1939 der aus Pawlowsk bei St. Petersburg stammende Biologe und Wissenschaftsfotograf Roman Wischnjak (Vishniac) einst aufgenommen hat? Oder wenn zum Beispiel der Berliner Maler, Grafiker und Zeichner Hermann Struck (1876-1944), angeregt von Arnold Zweig, während seines Aufenthalts in Osteuropa 1915 nicht die eindrucksvollen Bildnisse für das Buch „Das ostjüdische Antlitz" geschaffen hätte - 50 Steinzeichnungen, die 1920 im Berliner Welt-Verlag erschienen sind? Ohne diese und manche andere künstlerischen Spiegelungen der verschwundenen jiddischen Welt im Osten, wären unser Gedenken, unsere Erinnerung und alles, was diese beiden spirituellen Säulen stützt, um vieles ahnungsloser und beschämend arm. Denn die damals teils schon assimilierten deutschen oder reichsdeutschen Juden, darunter auch Persönlichkeiten wie zum Beispiel der Politiker, Reichsaußenminister und Schriftsteller Walther Rathenau, „eine der herausragendsten Gestalten des zu Ende gehenden wilhelminischen Zeitalters" (Julius H. Schoeps), standen dem Ostjudentum und der jiddischen Sprache meist ablehnend und manchmal sogar abwertend gegenüber. So schrieb Rathenau im März 1897 in der Berliner Zeitschrift „Die Zukunft": „Drohender erhebt sich die gesellschaftliche, die Kulturfrage. Wer ihre Sprache vernehmen will, mag an Berliner Sonntagen mittags um zwölf durch die Tiergartenstrasse gehen oder abends in den Vorraum eines Theaters blicken. Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm glänzend und auffallend staffiert, von heissblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde."

Die Schoa#

Etwa vier Jahrzehnte später ereilte dann die oft ahnungslosen Vertreter dieses „fremdartigen Menschenstammes" und selbst jene, die längst nicht mehr zu deren „asiatischen Horde" gehören wollten, die Schoa (das grosse Unheil, die Katastrophe). Und während des Zweiten Weltkriegs wurden selbst ihre jahrhundertealten Kulturdenkmäler in Osteuropa von deutschen Soldaten für immer zerstört. Erinnert sei an dieser Stelle „nur" an die über 200 Holzsynagogen im Dnjepr-Tal, die damals beim Vormarsch von Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS niedergebrannt wurden. Ein Viertel Jahrhundert vorher, ab 1916, hatten zwei junge Künstler, Elieser „El" Lissitzky (damals 26) und Issachar Ber Ryback (damals 19), den Auftrag erhalten, jüdische Kunstdenkmäler in den Schtetln der Ukraine und Weissrusslands dokumentarisch aufzunehmen. So begannen sie, Bauweise, Dekor und Innenausstattung dieser bedeutsamen Baudenkmäler, die bis dahin alle Pogrome überstanden hatten, mühevoll abzuzeichnen.

Lissitzky (1890-1941) und Ryback (1897-1935) zogen damals entlang des Dnjepr-Flusses, sozusagen „von Dorf zu Dorf, von Schtetl zu Schtetl", durch die Welt von Scholem AIejchem, der kurz vorher in New York verstorben war. Sie „maßen, kopierten, notierten", denn „es galt, die versteckten Spuren jüdischen Volkstums, dessen inneres Wesen aufzuspüren", wie der amerikanische Kunsthistoriker Avram Kampf 1984 schrieb. Diese und andere bildlichen Zeugnisse sowie „eine klangvolle Weltsprache, die man mameloschn und Jiddisch nennt und die immer noch von Johannesburg in Südafrika bis Czernowitz-Tschernivzi in der heute ukrainischen Nordbukowina gesprochen wird, verhelfen den Nachgeborenen zu Einsichten in die verschwundene Welt von Scholem Alejchem, Abraham Goldfaden, Mendele Mojcher Sforim und Itzhok Lejb Perez", sagte Josef Burg (1912-2009), der letzte große ostjiddische Schriftsteller, in einem Gespräch, das der Verfasser dieser Zeilen 1992 mit ihm für den Bayerischen Rundfunk führte. „Aber um diese Welt, das große Leid und die kleinen Freuden seiner Menschen, zu begreifen, muss man auch die wunderbaren Fotos von Roman Wischnjak vor Augen haben..."

Sohn eines Gutspächters aus Perejaslaw-Chmelnyzkyj#

Scholem Rabbinowicz, der sich als Schriftsteller das Pseudonym Scholem Alejchem (hebr. „Friede sei mit euch") zulegte, wurde am 2. März 1859 in Perejaslaw (heute: Perejaslaw-Chmelnyzkyj) als Sohn eines Gutspächters geboren, der mit Holz und Getreide handelte und eine Lizenz zur Postbeförderung besaß. Perejaslaw war damals eine Kleinstadt mit zahlreichen jüdischen Einwohnern. Von dort stammt übrigens auch die amerikanisch-jüdische Malerin und Bildhauerin Louise Nevelson (eigentlich Leah Berliawsky, 1899-1988) sowie die israelische Meistersportlerin Hanna Knjasjewa-Minenko (geb. 1989).
Den ersten, traditionell religiös geprägten Unterricht erhielt Scholem im Cheder, wo er zunächst das Alphabet und die hebräische Sprache erlernte, um danach - auch als Schüler - die Tora und anschließend den Talmud, bzw. Mischna und Gemara, zu studieren. 1876 legte er dann das Abitur an einem russischen Gymnasium ab. Ein Jahr später, achtzehnjährig, begann er als Hauslehrer bei einem reichen Gutsbesitzer zu arbeiten, dessen Tochter Olga er später heiratete.
Seine ersten literarischen Texte veröffentlichte er in den beiden bekannten und damals grössten hebräischen Tageszeitungen „HaZefirah" und „HaMeliz". „HaZefirah" (Die Morgenröte), gegründet 1862 von Chajim Selig Slonimski (1810-1904), erschien mit Unterbrechungen bis 1924 in Warschau und zwischendurch zeitweilig in Berlin. Die erste hebräische Tageszeitung im russischen Kaiserreich „Ha-Meliz" (Der Verteidiger) hatte 1860 Alexander Zederbaum (1816-1893), der „Pionier des hebräischen Journalismus" zuerst als Wochenzeitung gegründet; sie erschien bis 1903 in Odessa und St. Petersburg. Ihre Beilage „Kolmewaser zu derjidischer folksbibliotek" (Bote der jiddischen Volksbibliothek, ab 1863) war übrigens die erste jiddischsprachige Zeitung in Russland. Neben Jehuda Leib Gordon, Mordechai Ehrenpreis, Nachum Sokolow und anderen herausragenden Journalisten gehörte auch Scholem Alejchem zum Kreis der Publizisten um dieses zentrale Presseorgan, das so von ihren meist freien Mitarbeitern mitgeprägt wurde.

Als Journalist und Romancier vielgereist#

Ab 1877 begann Scholem Alejchem beim jiddischen Leserpublikum bekannt und beliebt zu werden - zuerst durch verschiedene Zeitungsberichte und Erzählungen, dann auch durch Romane, Dramen und Lieder. Nach seiner Heirat mit Olga Loyev 1883 entschloss er sich, nur noch jiddisch zu schreiben. Fünf Jahre später übersiedelte er mit seiner Frau nach Kiew, damals im russischen Zarenreich, von wo er jedoch schon 1890 wegen Spielschulden fliehen musste. Nach Zwischenstationen in Paris, Wien und Czernowitz, und nachdem seine Schwiegermutter die Schulden bezahlt hatte, kehrte er mit seiner Familie nach Russland zurück und ließ sich in Odessa nieder. Ab 1893 lebte Scholem Alejchem dann wieder in Kiew und veröffentlichte in Mordechai Spektors „Hausfreund" zahlreiche Beiträge, darunter auch in mehreren Folgen die ersten Anfänge von „Tewje der milchiker" (Tewje, der Milchmann). Im Jahr 1905 musste Scholem Alejchem wegen des dreitägigen Pogroms von Kiew Russland verlassen und ging zunächst nach Lemberg (heute: Lviv), das damals zum österreichischen Kaiserreich gehörte. Von dort begab er sich auf eine Lesereise nach Galizien und Rumänien. Es folgten weitere Aufenthalte in Den Haag, Berlin, Kopenhagen, Czernowitz, danach in der Schweiz, in England, Frankreich und in den USA, die er aber 1907 verließ und zeitweilig in Italien blieb. Sieben Jahre später übersiedelte er zum zweiten Mal in die USA, wo er bis zu seinem Tod „im jüdisch geprägten New York" lebte. Hier, in der Lower East Side, betrug die Zahl ostjüdischer Einwohner bis 1915 annähernd 60 Prozent; außerdem gab es damals in New York zwölf jiddische Theater, „mit teils hervorragenden Schauspielern und Inszenierungen" (Leon Brandt). Der Roman über Tewje, heute wohl das bekannteste Werk von Scholem Alejchem, entstand zwischen 1894 und 1916 und diente später dem amerikanischen Dramatiker Joseph Stein (1912-2010) als Vorlage für das Musical „Fiddler on the Roof (1964, Der Fiedler auf dem Dach, bzw. deutsch „Anatevka") und 1972 zum gleichnamigen Film. Für sein Musical erhielt Joseph Stein zwei Mal den seit 1947 jährlich vergebenen Tony Award, den wichtigsten amerikanischer Theater- und Musicalpreis. Diesen Erfolg von „Tewje" konnte Scholem Alejchem nicht mehr erleben; er war bereits 48 Jahre vorher, am 16. Mai 1916, in New York an Tuberkulose gestorben.

Über fünfzig Romane und Dramen#

Nach seinem jiddischen Debüt - seine erste Novelle „Zwej schtejner" (Zwei Grabsteine) erschien in der St. Petersburger Wochenzeitung „Dos Jiddische Folksblat" und erzählt vom „Erlebnis seiner Liebe zu Olga", wobei jedoch die fiktive Handlung tragisch endet - veröffentlichte Scholem Alejchem über fünfzig Romane und Dramen, von denen ein Teil inzwischen in 60 Sprachen übersetzt wurde. Zu einigen Büchern schuf der bekannte Maler, Bildhauer und Grafiker Anatoli Lwowitsch Kaplan (1902-1980), ausdrucksvolle Illustrationen. Die Gesamtausgaben seines Oeuvres - darunter auch Kinderbücher und ein „Wörterbuch jiddischer Flüche" - erschienen 1909-1919 in Warschau und Wilna (16 Bände) und als „Folksfond Ojsgabe", 1917-1925, in New York (28 Bände). Seit 1964 gibt es in Tel Aviv ein Scholem Alejchem-Museum, wo über 300 Erinnerungsstücke aus dem Besitz des Schriftstellers sowie zahlreiche Manuskripte und Briefe zu sehen sind, die aus New York hingebracht wurden. 2009 wurde in Kiew das „Musej Scholom-Alejchema" mit über 500 Exponaten eröffnet, wo außer Handschriften, seltenen Büchern, Kunstwerken, Ritualgegenständen auch Matzewot (Grabsteine) ausgestellt sind.

Erfolgsmusical Anatevka#

Betrachtet man heute Scholem Alejchems reiches literarisches Schaffen - von seinem ersten Roman „Natascha", 1884, bis zur Dramatisierung seines Romans „Der blutiker schpas" (Der blutige Spass), 1914, unter dem Titel „Schwer zu sajn a jid" (Es ist schwer, Jude zu sein) - so steht inzwischen das Musical „Fiddler on the Roof" an erster Stelle, nachdem es seit 1965 bald auf den Bühnen der ganzen Welt gespielt und allein am Broadway in New York über 3000mal aufgeführt wurde. In Deutschland fand die Erstaufführung in Hamburg im Februar 1968 unter dem Titel „Anatevka" statt. Damit im Zusammenhang erinnert man sich auch immer wieder an den unvergesslichen litauisch-israelischen Schauspieler und Sänger Schmuel Rodensky (1904-1989) in der Hauptrolle des Milchmannes Tewje. Es wurde „ein Welterfolg aus einer Welt, die nie Erfolg hatte und nur Verfolgung kannte", schrieb 1981 Leon Brandt in seinem Bildband „Abschied von Tewjes Welt".

Doch das bleibende Verdienst von Scholem Alejchem ist, dass er als aufmerksamer, kritischer und einfühlsamer Beobachter, gleichzeitig aber auch als feinsinniger Humorist und Satiriker, wie kein anderer die Welt der Ostjuden in Russland und in den historischen Siedlungsgebieten entlang der Flüsse Trubisch und Dnepr, bis nach Galizien, Wolhynien, Podolien und Lodomerien, so geschildert hat, dass sie für kommende Generationen unvergesslich blieb. Und wenn auch seine Bücher „manchmal ungelesen nur im Regal standen", wurden sie trotzdem zu „einer Art Talisman der Jüdischkeit", wie später der Filmregisseur Joseph Dorman feststellte. Denn sie führen uns immer von neuem in eine Welt, in der Scholem Alejchem seelisch und geistig beheimatet war - auch als er längst weit weg von ihr leben musste. Und da er Jiddisch schrieb, schuf er in seiner Sprache ein wortreiches Mahnmal und wurde so zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen des östlichen Judentums.

David (Nr. 109/2016)


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