Der Begründer der Allergielehre#
Der Kinderarzt, Forscher und Sozialmediziner Clemens Freiherr von Pirquet wurde vor 100 Jahren zum ersten Vorstand der Kinderklinik im Allgemeinen Krankenhaus berufen.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 18./19. Juni 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Gabriele Dorffner
"Zur Wahrung der Priorität erlaube ich mir, eine vorläufige Mittheilung über eine in einigen Monaten zu publizierende Arbeit Zur Theorie der Infektionskrankheiten’ bei der k.k. Akademie der Wissenschaften zu deponieren."
Mit diesen Worten begann ein Schreiben, in dem Clemens von Pirquet grundlegende Thesen zu Infektionskrankheiten darlegte, und das er am 2. April 1903 versiegelt in der "Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften" in Wien hinterlegte, mit dem Wunsch, es am 13. Februar 1908 im Beisein einer akademischen Kommission zu eröffnen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse zur Prüfung vorzulegen. In diesem einzigartigen Statement, in dem er alleine durch Beobachtungen und Analysen spätere Resultate vorwegnahm, legte er auch den Grundstein für die 1906 in seiner Habilitation postulierte Allergielehre.
An der Person von Pirquet kristallisierte sich jedoch nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch soziales Engagement in einer Zeit, in der das Fürsorge- und Wohlfahrtswesen im "Roten Wien" ausgebaut wurde. Vor allem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gelang es ihm, aufgrund seiner guten Verbindungen ins Ausland, entscheidend bei der Versorgung der Bevölkerung mitzuhelfen.
Eine behütete Kindheit#
Clemens Freiherr von Pirquet wurde am 12. Mai 1874 in Hirschstetten nahe bei Wien geboren. Sein Vater, Peter Zeno von Pirquet, war Repräsentant der "Landeigner-Partei" und spielte als Reichsrats- und Landtagsabgeordneter im österreichischen Parlament eine bedeutende Rolle. Die Mutter, Flora Freiin von Pereira-Arnstein, entstammte einer jüdischen Wiener Bankiersfamilie.
Clemens von Pirquet wuchs gemeinsam mit seinen Geschwistern Theodor, Peter, Silverio, Agnes, Margarethe und Guido auf dem Landsitz der Familie auf, dem "Ziegelhof" in Hirschstetten, wo er eine unbeschwerte Kindheit verbrachte. Nach Ablegung der Reifeprüfung im Wiener Theresianum 1892 begann er auf Wunsch seiner Mutter mit dem Studium der Theologie in Innsbruck, das er jedoch nach einem Jahr abbrach, um an der philosophischen Fakultät in Löwen zu studieren, wo er 1894 mit dem Bakkalaureat abschloss.
Nach Wien zurückgekehrt, entschied sich Clemens von Pirquet, beeinflusst von seinem Schwager, dem Chirurgen Anton von Eiselsberg, zum Medizinstudium, das er in Königsberg fortsetzte und in Graz mit der Promotion im Jahr 1900 beendete. Bereits in Königsberg führte er erste wissenschaftliche Arbeiten durch, und eine Publikation aus dieser Zeit zeigt sehr deutlich, wie eingehend er sich mit den theoretischen Hintergründen eines Problems oder einer Fragestellung auseinandersetzen konnte. In Graz studierte er bei Theodor Escherich, der zu den führenden Pädiatern zählte. Mag sein, dass die Begegnung mit ihm maßgeblich zur Entscheidung, sich der Kinderheilkunde zuzuwenden, beigetragen hatte. Vielleicht war es aber auch der Umstand, dass die Pädiatrie, die sich hauptsächlich mit ernährungsbedingten Problemen und Infektionskrankheiten beschäftigte, für Pirquet ein interessantes Forschungsgebiet abgab.
Nach Abschluss des Studiums begann Pirquet bei Otto Heubner an der Berliner Charité seine pädiatrische Ausbildung, und in Berlin lernte er auch seine spätere Frau, Maria Christine van Husen, kennen. Sie war eine emanzipierte, lebensbejahende Frau, die aber in späteren Jahren zunehmend unter gesundheitlichen und psychischen Problemen litt. Ende 1901 kehrte Pirquet nach Wien zurück und setzte seine pädiatrische Ausbildung an der Universitäts-Kinderklinik - damals noch im St. Anna-Kinderspital - fort. Sein ehemaliger Lehrer, Theodor Escherich, der ab 1902 der Klinik vorstand, spornte ihn an, sich intensiv der Forschung zu widmen. Pirquet arbeitete anfangs eng mit Paul Moser zusammen, der sich mit dem Scharlach, beziehungsweise seinem Erreger auseinandersetzte und ein Heilserum zur Behandlung dieser Krankheit entwickelt hatte. Durch diese Forschungsarbeit mit Moser bot sich für Pirquet reichlich Gelegenheit, seine Theorie der Infektionskrankheiten zu entwickeln. Anhand der ersten grundlegenden Publikationen lässt sich erkennen, dass die wissenschaftliche Tätigkeit Pirquets vorwiegend aus der Beobachtung am Krankenbett resultierte, er aber auch Selbstversuche anstellte, um Reaktionen zu beobachten. Die Resultate seiner Arbeit präsentierte er Anfang 1903 im Rahmen eines Vortrages mit dem Thema "Zur Theorie der Vakzination".
Die "Pirquetprobe"#
Clemens von Pirquet verfolgte nun seine Thesen gemeinsam mit seinem Kollegen Béla Schick weiter und publizierte 1905 mit ihm die Arbeit über "Die Serumkrankheit". Darin dokumentierten die beiden, wie durch die Gaben des Heilserums (Pferdeserum), das zur Therapie bei Scharlach verwendet wurde, ein klinisches Krankheitsbild festgestellt werden konnte. Der Medizinhistoriker Hans Schadewaldt meint dazu in seiner "Geschichte der Allergie": "Das Besondere an diesen Veröffentlichungen von Pirquet und Schick ist, dass anhand von Einzelbeobachtungen, die zum Teil von den Vorgängern nicht unter einem einzigen großen Gesichtspunkt gesehen wurden, prinzipielle biologische Gesetzmäßigkeiten entwickelt wurden."
Im Zentrum von Pirquets Interesse stand nun die Frage, was bei einer nochmaligen Infizierung geschieht, wenn bereits eine Immunität vorliegt. Für die Erklärung der veränderten Reaktionsfähigkeit suchte er nach einer neuen Bezeichung und prägte den Begriff der "Allergie", den er aus dem Griechischen ableitete ( allo = anders, ergon = Tat) und 1906 in der "Münchener Medizinischen Wochenschrift" vorstellte. In seiner Habilitationsschrift "Klinische Studien über Vakzination und vakzinale Allergie", die 1907 erschien, führte er seine Theorie weiter aus und fasste sie 1910 in einer Monographie zusammen. Das Wort "Allergie" ist mittlerweile Allgemeingut geworden, sodass oft auf den Erstbeschreiber vergessen wird. Zur gleichen Zeit befasste er sich aber auch mit der Tuberkulose und entwickelte die Tuberkulinprobe - später als "Pirquetprobe" bekannt -, bei der Tuberkulin, ein Filtrat von Tuberkulosebazillen, mit einem von ihm konstruierten Instrument in die Haut eingebracht wurde. Anhand der Reaktion konnte schon vor Auftreten von klinischen Symptomen eine Tuberkulose festgestellt werden. Damit hatte Pirquet ein diagnostisches Hilfsmittel geschaffen, das vor allem für die Prophylaxe und die Tuberkulosefürsorge von Bedeutung war.
Knapp ein Jahr später erhielt er ein Angebot des Pasteur-Instituts in Paris und den Ruf nach Baltimore an die Johns Hopkins-Universität, wo ein neuer Lehrstuhl für Kinderheilkunde geschaffen worden war. Er entschied sich für Baltimore, kehrte aber nach einem Jahr wieder nach Europa zurück, um an der Kinderklinik in Breslau die Nachfolge von Adalbert Czerny anzutreten. Auch dort blieb er nicht lange, denn im Februar 1911 starb Theodor Escherich, der Vorstand der Universitäts-Kinderklinik in Wien, und Clemens Freiherr von Pirquet erhielt den Ruf an die Lehrkanzel. Er übernahm die neu erbaute Universitäts-Kinderklinik im Allgemeinen Krankenhaus, die von Theodor Escherich geplant worden war, und die kurz vor ihrer Fertigstellung stand. Dort begründete er eine heilpädagogische Abteilung und errichtete auf dem Dach eine Freiluftstation für Kinder, die an Tuberkulose erkrankt waren. Darüber hinaus schuf Pirquet an der Klinik für seine Assistenten die Möglichkeit, sich wissenschaftlich zu profilieren, und setzte neue Maßstäbe in der Krankenpflege.
Wie schon vor ihm Theodor Billroth, erkannte auch Clemens von Pirquet die Bedeutung der Pflege im medizinischen Versorgungskonzept und räumte ihr einen höheren Stellenwert ein, als dies zu seiner Zeit üblich war. Er bezog auch die Beobachtungen der Pflegerinnen in die Forschungsarbeit mit ein und etablierte 1911 an der Klinik einen Ausbildungskurs, der zwei Jahre später in die erste öffentliche Krankenpflegeschule im Allgemeinen Krankenhaus integriert wurde. Neben den organisatorischen Belangen innerhalb des Klinikbetriebes widmete sich Pirquet in dieser Zeit hauptsächlich der Ernährungslehre und entwickelte ein eigenes Ernährungssystem, das sogenannte "NEM-System" (Nähreinheit Milch), das am Ende des Ersten Weltkrieges die Grundlage für eine großangelegte Kinderausspeisung, die sogenannte "Amerikanische Kinderhilfsaktion", bildete. Außerhalb der Klinik förderte er vor allem die Belange der Säuglings- und Kinderfürsorge und war in verschiedenen Institutionen vertreten, wie beispielsweise als Kuratoriumsmitglied in der "Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge".
Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte er sich noch mehr im sozialpolitischen Bereich, da es ihm immer wichtig war, die wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Praxis zugänglich zu machen. An der Klinik wurden verschiedene Kurse abgehalten, um die neuesten Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft und der Kinder- und Säuglingspflege an die Mütter weiterzugeben. Clemens von Pirquet bekleidete zahlreiche Ämter und war auch Präsident der "Internationalen Gesellschaft für Kinderhilfe" und später Präsident der "Union Internationale de Secours aux Enfants" in Genf. Darüber hinaus hatte er die Schriftleitung der Abteilung öffentliches Gesundheitswesen, Abteilung Vokswirtschaft und Geschichte der "Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden", inne und begründete 1926 die "Österreichische Gesellschaft für Volksgesundheit", die den Zweck verfolgte, "auf dem Gebiete der Volksgesundheit ersprießlich zu wirken", wie er in einem Brief an den damaligen Bundespräsidenten Michael Hainisch schrieb. Um eine möglichst große Breitenwirkung zu erzielen, schloss Pirquet mit der RAVAG ein Übereinkommen, durch das einmal wöchentlich Rundfunkvorträge über allgemein medizinische Fragen gesendet werden konnten.
Soziales Engagement#
Sein soziales Engagement brachte Clemens von Pirquet so viel Ansehen, dass er 1928 sogar als Kandidat für die Nachfolge von Bundespräsident Michael Hainisch im Gespräch war.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete er sich nun vorwiegend der graphischen Analyse von Fragestellungen und fand zunehmend Gefallen an der statistischen und graphischen Darstellung, wie seine letzten Arbeiten zeigen. Am 28. Februar 1929 schied Clemens von Pirquet gemeinsam mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben. Zu diesem Tod kursierten damals in den Zeitungen viele Verschwörungstheorien. Die Spekulationen reichten von Drogenproblemen über psychische Störungen bis hin zur Überschreitung der Grenze von Genie und Wahnsinn. Eine offizielle Aufklärung gab es aber nicht.
Sein Schüler Richard Wagner schrieb später über den großen Arzt: "Pirquet gehörte zu jener dünnen Oberschicht von Auserwählten, die keiner Nation, sondern die der Welt angehörten. Er war eine eigentümliche Synthese von Künstler und Gelehrtem".
Gabriele Dorffner ist Historikerin und als Kuratorin am "Department und Sammlungen für Geschichte der Medizin" an der MedUni Wien tätig.