Politischer Islam? #
Die Einrichtung einer „Dokumentationsstelle für politischen Islam“ schlägt hohe Wellen. Anmerkungen aus religionshistorischer Perspektive. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (30. Juli 2020)
Von
Franz Winter
Wenn politische Entscheidungsträger Taten setzen, kann es durchaus passieren, dass plötzlich Begriffe eine völlig neue Dimension und Wertigkeit erlangen. Aktuell kann man das an der Debatte um die Einrichtung einer sogenannten „Dokumentationsstelle für politischen Islam“ beobachten, die hohe Wellen schlägt. Die Ausgangsbedingungen laden in der Tat dazu ein, diesen Vorgang als populistischen Aktionismus zu verurteilen und als einen Akt der Diskriminierung einer einzelnen Religion, die es in Österreich ja immerhin schon seit mehr als hundert Jahren gibt – und das sogar als „anerkannte“ Religionsgemeinschaft.
Dementsprechend kommt es zu Frontbildungen, entlang derer zumeist recht pauschal argumentiert wird. Sehr prominent wurde beispielsweise ins Spiel gebracht, dass der Begriff „politischer Islam“ an sich ein Unding wäre, weil ja jede Religion, ja überhaupt jeder Mensch irgendwie „politisch“ sei.
Muster des Kolonialismus #
Doch macht man es sich hier oft zu einfach. Die Diskussion um den Islam taucht ja nicht aus dem Nirgendwo auf und wurde zum Zwecke der politischen Verführung auf dem Reißbrett entworfen, sondern wurzelt in konkreten historischen Entwicklungen, die uns alle schon seit einigen Jahrzehnten beschäftigen. Was in diesem Zusammenhang beispielsweise nicht korrekt ist, ist die Angabe, dass der Begriff „politischer Islam“ keinen Hintergrund in der wissenschaftlichen Literatur hätte. Dieser bzw. häufiger noch der im Wesentlichen synonyme Begriff „Islamismus“ wird im Gegenteil sehr wohl verwendet und man versucht damit etwas sehr Weitreichendes und Schwieriges begrifflich zu fassen, das Grundprobleme des aktuellen Verhältnisses von islamischer und „westlicher“ Welt berührt.
Im Grunde genommen eröffnet sich nämlich schon Anfang des 19. Jahrhunderts ein explosiver Spannungsbogen, der viel mit dem europäischen Kolonialismus, aber auch mit den Reaktionsmustern darauf in den islamischen Ländern zu tun hat. Dabei ist ein ständiges Hin und Her zwischen Versuchen einer Integration einer „Moderne“ auf der einen Seite und dem strikten Ablehnen alles Neuen auf der anderen Seite ein beständig zu beobachtendes Phänomen, das oft wie ein nervöses Flackern wirkt. Neben den sogenannten „Modernisten“ im ausgehenden 19. Jh. und beginnenden 20. Jh., die in der Konfrontation mit Europa vom Ehrgeiz getrieben waren, die „Moderne“ zu integrieren, ergab sich bald auch eine radikale Ablehnungsfront.
Dabei übernahm man oft unreflektiert die Muster des Kolonialismus: Weil dieser oft den Islam als Ursache für die Rückständigkeit der islamischen Welt identifizierte, sah man in einer radikalen Reform des Islam den einzigen Ausweg aus der Krise. Gerne spricht man in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer spezifischen „Ideologie“ (wohl in erster Linie, um den heiklen Religionsbegriff zu vermeiden), die dann die Strömungen des Islamismus hervorbrachte. Diese Entwicklung wurde dann durch historische Verläufe verstärkt: der Untergang des Osmanischen Reiches als mittelbare Folge des Ersten Weltkriegs, das teilweise rücksichtslose Agieren der alliierten Mächte in der islamischen Welt oder die Gründung des Staates Israel wurden als nicht wieder gut zu machende Eingriffe in die Souveränität der islamischen Welt interpretiert.
Das Begriffsfeld „politischer Islam“ bzw. Islamismus bezieht sich nun auf die Entstehung von durchaus wirkmächtigen Gemeinschaftsbildungen. 1928 wurde etwa die sogenannte „Muslimbruderschaft“ von einem ägyptischen Pädagogen begründet, der von der Installation des Islam auf allen Ebenen der Gesellschaft träumte. Dazu zählen würde man auch die sehr heterogenen Strömungen des sogenannten Salafismus (und zwar in seiner jüngeren Ausprägung). Dieser ist in erster Linie durch Intellektuelle geprägt worden, die sich mit der auch innerhalb der islamischen Geschichte im Grunde genommen sehr inhaltsarmen Tradition der Wahhabiten verbinden. Letztere erlangten durch eine eher zufällige Verbindung mit dem saudi-arabischen Königshaus eine überragende globale Bedeutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Neue „Dokumentationsstelle“ #
Allen diesen Strömungen ist ein sehr reduktiver, um nicht zu sagen inhaltsleerer Zugang zur islamischen Tradition gemein. Sie sprechen sich gegen die Vielfalt des Islam in seinen lokalen Ausprägungen aus und propagieren einen sehr stark auf Rechtsvorschriften fokussierten Zugang zur Tradition. Und sie beanspruchen für sich, ein Gesamtprogramm anbieten zu können, das mehr oder minder alles regeln könnte (wobei vieles nebulös bleibt, außer dass man „den Islam“ auf allen Ebenen der Gesellschaft realisieren will).
Das steht im großen Widerspruch zur Geschichte der islamischen Welt, die niemals nur eine einzige Gesellschaftsform hervorbrachte, sondern vielmehr eine äußerst ausgeprägte Vielfalt kennt, in der beispielsweise die Verhältnisse zwischen religiösen und weltlichen Entscheidungsträgern in unterschiedlicher Art und Weise austariert wurden. Dazu zählen würde man auch die in den letzten Jahren zum Teil wieder gestärkten nationalistisch gefärbten Bezugnahmen auf den Islam, etwa in der Türkei oder auch im Iran. Alles das sind primär einmal innerislamische Entwicklungen, doch zeitigen sie auch Auswirkungen auf den Islam in Europa. Hier davon zu sprechen, dass es keine Probleme gäbe, ist schlichtweg naiv. Nicht zuletzt rufen ja gerade liberale Muslime oft dazu auf, diese Strömungen stärker zu thematisieren.
Auf ganz anderes Terrain begeben wir uns allerdings, wenn man diesen Begriff nun in Österreich mit einer explizit eingerichteten „Dokumentationsstelle“ verbindet und institutionalisiert. Hier ist in der Tat die Gefahr einer massiven Verkürzung gegeben, weil die genaue Definition des Zuständigkeitsbereichs vermutlich ausbleiben wird. Übrig bleibt ein diffuses Gefahrenbild, das alle Muslime in Geiselhaft nimmt. Wenn man ihnen nun sogar von höchster politischer Stelle einen Eid auf die österreichische Verfassung nahelegt, dann verliert man endgültig den Blick für das Maß, das es zu halten gäbe. Punktuelle, einzelne Probleme, die es zweifellos gibt und mit denen sich eine gut ausgestattete Dokumentationsstelle in der Tat sinnvoll auseinandersetzen könnte, sollten kein Anlass sein, „die Muslime“ an sich pauschal zu verunglimpfen.
Die beste aller Welten #
Das dahinter noch ein viel weitreichenderes Phänomen steckt, muss nicht extra hervorgehoben werden: Und das ist die prinzipielle Frage des Verhältnisses von Religionen und dem, was sich in der europäischen Moderne als moderne, liberale, demokratische „Staaten“ entwickelt hat. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass sich Religionen vielfach in streng hierarchisierten Gesellschaften leichter tun, insbesondere dann natürlich, wenn sie die Nähe der Macht genießen. So hat beispielsweise auch die katholische Kirche eine strukturelle Affinität zu Herrschaftsformen, die eine gestufte Ordnung der Gesellschaft vorsehen. Damit nimmt es nicht wunder, dass das Aufkommen demokratischer Staatengebilde keineswegs begrüßt wurde und man bis heute noch Ressentiments gegen den damit verbundenen Begriff der „Freiheit“ pflegt.
Doch entfaltete sich im Zuge der historischen Verläufe ein Prozess der Aussöhnung und des Arrangements mit diesen neuen Errungenschaften, die – nüchtern historisch betrachtet – Gesellschaften hervorbrachte, die in einem Ausmaß so vielen Menschen individuelle Freiheiten brachten wie keine zuvor. Ob und wie sehr sich die islamische Tradition damit versöhnen kann – diese Frage steht aktuell zur Debatte. Auf jeden Fall gilt es, diese großartige Errungenschaft zu verteidigen. Es ist die beste aller Welten.
Der Autor ist Professor für Religionswissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz.