Als die Männer fliegen lernten#
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein Traum Wirklichkeit#
Von der Wiener Zeitung (Freitag, 1. März 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Anton Holzer
1909 ging in Wien vor 200.000 Schaulustigen die erste Maschine in die Luft.#
Für gewöhnlich ist die Forschungsarbeit in Zeitungsarchiven, die mich seit einigen Jahren umtreibt, eine ruhige, der Welt ein wenig entrückte Tätigkeit. Ich lege mir, um in der Fülle des Materials nicht zu ersticken und den Überblick zu wahren, einen Blick der schwebenden Aufmerksamkeit zu, überblättere vieles, um hin und wieder an einzelnen Bildern und Texten hängen zu bleiben. Dann vertiefe ich mich für eine Weile intensiver in eine Geschichte, mache mir Notizen und blättere weiter.
Kühne Aufstiege#
Vor einiger Zeit steuerte ich bei meinen Zeitungsrecherchen ohne größere Erschütterungen über das magische Jahr 1900 hinweg und glitt hinein in die Epoche des 20. Jahrhunderts, ohne dass mir sonderlich Aufregendes ins Auge sprang. Dann, beim Jahr 1909, schlug mich ein Thema in seinen Bann, das mir bisher in den österreichischen Blättern noch nicht begegnet war. In diesem Jahr, also 1909, gingen die ersten motorgetriebenen Flugzeuge von Wien aus in die Luft. Und in den illus-trierten Wochenzeitungen erschienen zahlreiche Bildstrecken und Berichte zum Thema.
Mich packte die Neugierde, ja geradezu eine Erregung. Ich stöberte weiter, las alle Berichte, die ich nur finden konnte. Gebannt folgte ich den ersten Schritten der heimischen Flugpioniere und fieberte mit bei ihren kühnen Aufstiegen und halsbrecherischen Manövern in der Luft. Im Handumdrehen hatte ich die Haltung des distanzierten Forschers abgelegt und war zum glühenden Augenzeugen geworden. Genauso wie die Zeitgenossen war ich elektrisiert von den Ereignissen rund um die ersten Flieger, von ihren atemberaubenden Kunststücken. Einige Wochen dauerte diese Faszination an, lesend war ich schon deutlich in die 1910er Jahre vorgedrungen, als sich das Fieber allmählich legte. Die Journalisten wandten sich anderen Schaustücken zu. Und auch ich kehrte wieder zu meiner ruhigen, gemächlichen Routine des Sichtens zurück.
Vielleicht hat mich diese Leidenschaft für die frühe Aviatik mit solcher Wucht gepackt, weil ich in jugendlichem Alter selbst Flugzeugbauer war: Aus federleichtem Balsaholz fertigte ich fliegende Apparate, versah sie im Winter mit Kufen, um sie am Schneehang unweit unseres Hauses auf Fahrt zu schicken. Meine gleitenden Wunderwerke zeigten zwar einigen guten Willen, indem sie sich leicht vom Boden abhoben, nach wenigen Metern aber gerieten sie ins Trudeln, neigten sich zur Seite und sanken in den Schnee. Warum die kleinen Flieger nicht länger in der Luft blieben, verstehe ich bis heute nicht. Unermüdlich reparierte ich die Fluggeräte und probierte es wieder und immer wieder, freilich ohne jemals zu besseren Ergebnissen zu gelangen. Möglicherweise war ich auf die Flugzeugbauerei durch den Film "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten" gekommen, den ich mir, zusammen mit den Nachbarbuben, im Fernsehen ansah.
Kehren wir zurück in die Jahre nach 1900. Der erste Flug der Brüder Wright im Prototyp eines Aeroplans im Jahr 1903 ist noch wenig viel versprechend. Unsicher hoppelt das Gerät über den Boden. Gezählte zwölf Sekunden hebt es ab, nach 36 Metern ist es wieder am Boden. Die Flugzeugbauer arbeiten aber unermüdlich an ihren Geräten. Im Gegensatz zu meinen bescheiden gebliebenen Bemühungen zeigen sich bald Erfolge. Die neuen Apparate fliegen immer weitere Distanzen.
Die ersten Flüge#
Als die Brüder Wright sich 1908 entschließen, ihre Erfindung in Form von Flugshows öffentlichkeitswirksam zu bewerben, geht es Schlag auf Schlag. Am 13. Jänner 1908 gelingt es dem französischen Flugpionier Henry Farman als erstem Menschen, einen ganzen Kilometer im motorgetriebenen Flugzeug zurückzulegen. Er erhält 50.000 Francs Preisgeld. Als Wilbur Wright am 31. Dezember desselben Jahres eine Strecke von 124 Kilometern in zwei Stunden und zwanzig Minuten zurücklegt, zweifelt niemand mehr an der Zukunft der motorgetriebenen Luftfahrt.
Im Oktober 1909 ist es auch in Wien so weit. Der erste motorgetriebene Flieger geht in die Luft. Gesteuert wird er von Louis Blé-riot, der Monate zuvor mit seiner spektakulären Ärmelkanalüberquerung weltberühmt geworden war. In euphorischen Worten beschreibt ein Journalist und Augenzeuge dessen triumphalen Auftritt in Wien: "Endlich haben auch wir ihn gesehen, den fliegenden Menschen, der als ein moderner Ikarus einfach zwei Flügel ausbreitet, um dem Kerker der Erdenschwere durch die Lüfte zu entfliehen."
Hinter der Wiener Veranstaltung steht der umtriebige Theaterbesitzer Leopold Müller. Er ist Direktor des Wiener Carl-Theaters in der Leopoldstadt und gründet 1908 das Johann-Strauß-Theater in der Favoritenstraße. Müller hat im Oktober 1908 in Reims den ersten Überlandflug Henry Farmans gesehen und begeistert sich schnell für diese neue Form der Aviatik. Im April 1909 lädt er Blériot für Herbst nach Wien ein. Er zieht die Flugschau als Spektakel für die große Masse der Bevölkerung auf, rührt kräftig die Werbetrommel und entfacht auf diese Weise ein mediales Feuerwerk rund um Blériots Auftritt. Ohne Eigennutz ist sein Engagement freilich nicht: Der Impresario verdient gut an der Veranstaltung. Am 23. Oktober, einem Samstagnachmittag, drängen sich 200.000 Schaulustige um das 1000 Meter lange und 800 Meter breite Flugfeld auf der Simmeringer Haide. Das Warten auf den prominentesten Zaungast, den Kaiser, beginnt. Zahlreiche Journalisten sind vor Ort. Sie regis- trieren jedes Detail. Folgen wir ihren Beobachtungen: "Punkt 15.45 Uhr verkündeten Hochrufe von der Zufahrtsstraße her und das Spiel der Volkshymne das Nahen des Kaisers, und die Mitglieder des Hofes traten vor den Hangar hinaus."
"Blériot wartete neben seiner Frau im blauen Arbeitskleid. Der Kaiser reichte ihm und seiner Gattin die Hand und ließ sich dann den Apparat erklären, einen aus leichtem Gestänge zusammengesetzten Einflächer, mit weiten Flügeln und einem langen Steuer. Gelenkt wird er mit einem Automobillenkrad, ein kleiner Schemel ist der Sitz. Der Motor verzehrt 24 Liter Benzin in der Stunde."
Als der Kaiser winkte#
Nach der kurzen Konversation, die der Monarch auf Französisch führt, betritt er die Hofloge. Blériot nimmt in seinem Apparat Platz. "Da erscholl das Surren des Motors, und aller Blicke wandten sich dem Hangar zu, aus dem im nächsten Augenblicke Blériots Aeroplan hervorrollte. Der Kaiser wies mit dem Zeigefinger auf das Feld hinaus, als das Fahrzeug sich über den Boden erhob und schön in die Lüfte stieg, und als bei der ersten Wendung Blériot unter stürmischen Bravorufen des Pu-blikums am Zelt vorbeikam, winkte der Kaiser mit der Hand empor und begleitete auch die lauten Kundgebungen der Menge, mehrmals ins Publikum blickend, mit zustimmendem Kopfnicken."
22 Minuten dauert der erste Flug, dem ein zweiter kürzerer folgen sollte. Blériot steigt bis zu 70 Meter hoch auf und dreht seine Runden über dem Flugfeld mit einer Geschwindigkeit von rund 50 Kilometern pro Stunde. Nach der sicheren Landung verlässt er den Apparat, nimmt die Mütze ab und tritt auf den Kaiser zu. Dieser wendet sich an Blériot: "‚Es war ein sehr interessantes Schauspiel. Ich bewundere den Mut und die Ausdauer, mit dem Sie das Werk geschaffen haben. Allein, es hat alle Mühe gelohnt. Die Stabilität des Apparats ist ebenso vorzüglich, wie die Sicherheit der Operationen.’ Nach einem Dankeswort Blériots fragt der Kaiser: ,Ist das Fahren in der Luft und Dirigieren der Mechanik anstrengend?‘ Blériot erwiderte. ‚Jetzt nicht mehr, Majestät. Jetzt ist es das reine Vergnügen für mich.‘ Danach trat der Kaiser mit einer leichten Verneigung und den Worten: ‚Sehr hübsch! In der Tat sehr hübsch!‘ ein wenig zurück." Blériots triumphaler Auftritt in Wien verleiht den österreichischen Flugpionieren gewaltigen Auftrieb. Am 29. November 1909, nur wenige Wochen nach Blériots Flugschau, verlaufen die Flugversuche Igo (Ignaz) Etrichs auf dem neuerrichteten Flugfeld Steinfeld bei Wiener Neustadt erfolgreich. Im ersten Anlauf schafft sein Apparat einen 100 Meter langen Flug. Im März 1910 steigt der Wiener Flugpionier Adolf Warchalowski am Wiener Neustädter Flugplatz erstmals mit einem Passagier an Bord auf und landet nach einer Viertelstunde wieder sicher. Mit der Etrich II Taube, einer weiterentwickelten Version seines ersten Flugapparates, feiert Etrich 1910 seine ersten großen Erfolge. Am 17. Mai absolviert Etrichs Mechaniker und Pilot Karl Illner den ersten Überlandflug von Wiener Neustadt nach Wien und landet sicher auf der Simmeringer Haide. Die 55 Kilometer lange Strecke legt er in 32 Minuten und 42 Sekunden zurück. Anschließend fliegt er wieder zurück.
Am 10. Oktober 1910 absolviert Illner mit dem Etrich IV einen erfolgreichen Flug von Wien Simmering nach Horn und gewinnt damit den von der Gemeinde Wien gestifteten Preis von 20.000 Kronen. Die 80 Kilometer lange Strecke bewältigt der Pilot bei Gegenwind in 72 Minuten. Bevor Illner zu seiner Luftexpedition aufbricht, lichtet ihn noch ein Fotograf mit dem Flugzeug ab. Stolz steht der Pilot vor seinem Apparat, dem eigentlichen Protagonisten des Bildes. 1910, 1911, 1912: Allmählich lässt meine Anspannung beim Lesen wieder nach. Im Juni 1912 wird der Flugplatz in Aspern eröffnet, nach und nach werden die Flugzeuge für die Zeitgenossen zum vertrauten Anblick. Und dennoch: Noch immer ist das Fliegen ein Wagnis, das anlässlich der Wiener Flugschauen Jahr für Jahr Hunderttausende Schaulustige anzieht. Diese wollen Spannung erleben: dramatische Wettbewerbe und waghalsige Manöver. Und sie wollen die jungen Fliegerstars mit eigenen Augen sehen. Um dem Massenpublikum stets neue Reize bieten zu können, wird das Programm immer stärker mit populärer Unterhaltung angereichert. Akrobatische, spektakuläre Einlagen in der Luft sollen das Publikum fesseln. Freilich: je riskanter die Manöver in der Luft, desto häufiger werden die Unfälle. Einer dieser Unglücksfälle passiert am 12. April 1914, dem Ostersonntag. An diesem Tag setzen die beiden französischen Aviatiker Alfred Lemoine und Jean Bourhis am Flugfeld von Aspern zu einer gewagten Darbietung an. Bourhis will vom fliegenden Flugzeug aus mit seinem Fallschirm in die Tiefe springen. Eine waghalsige Übung, die vor ihnen in Wien noch niemand vollbracht hat.
In steilem Sturzflug#
Kurz vor dem Start posieren die beiden Flieger noch vor ihrer Deperdussin-Maschine. Dann setzen sie ihre ledernen Fliegerkappen auf, rollen mit dem Flugzeug auf das Feld und starten. Als die beiden eine Höhe von 500 Metern erreicht haben, will Bourhis wie geplant abspringen. Während des Ausstiegs verfängt er sich jedoch in den Verspannungsschnüren des Flugzeugs und kollidiert mit dem Höhensteuer. Der Pilot ist gezwungen, im steilen Sturzflug abzusteigen. Während dieses Manövers fällt er aus dem Flugzeug und stürzt auf das Flugfeld, wo er schwer verletzt liegen bleibt. Bourhis, der im halb geöffneten Fallschirm zu Boden geht, landet leicht verletzt am Boden. Aufatmen, dann blättere ich weiter. Juni, Juli, August 1914. Der Krieg beginnt. Mit einem Mal sind die fliegenden Männer aus den Zeitungsseiten verschwunden, doch nur kurz. Denn bald tauchen sie in neuen Rollen wieder auf. Kaum hat sich das Kampfgeschehen in die Luft ausgedehnt, werden sie Aufklärungspiloten und Kampfflieger. Aber das ist eine andere Geschichte.
Anton Holzer, geb. 1964 in Südtirol, Fotohistoriker und Ausstellungskurator, Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte", lebt in Wien. Zuletzt erschienen die Bücher "Ganz Wien in 7 Tagen. Ein Zeitreiseführer in die k.u.k. Monarchie" und "Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg" (beide im Primus Verlag, Darmstadt).