Das zweite Wohnzimmer nebenan#
Gute Verpflegung, persönliche Ansprache: Lokalaugenschein im Stammbeisl#
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 2. Jänner 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Sabine Karrer
Mehr als zwei Drittel der Wiener Lokalbetreiber leben von Stammgästen.#
Wien. Vor den Augen seines Kellners ein paar Tränen über eine verlorene Liebe vergießen. Sich bei anderen Lokalbesuchern über seinen krisengeschüttelten Job aussprechen. Eine kreative Idee ins Leben rufen, auch wenn sie am nächsten Tag wieder verworfen wird. Mit anderen Gästen über das Leben philosophieren. Wenn Sie das oder Ähnliches bereits erlebt haben, dann suchen Sie vermutlich regelmäßig ein Stammlokal auf.
Wahrscheinlich kennen Sie dann auch den älteren Herrn, der üblicherweise an der Bar steht und dort in Ruhe sein Bier genießt. Oder die aufgedrehte Blondine jenseits der 40, die ungefragt jedem ihre Lebensgeschichte erzählt. Oder die ausgelassene Partie, die den Stehtisch zwischen Bar und Tischen für sich beansprucht. Die Chefin des Hauses weiß ganz genau, dass der weißhaarige Mann immer ein Glas Wasser zum weißen Spritzer will. Der wiederum schätzt das. Vermutlich wird er auch morgen wieder hier sein. Oder übermorgen. Oder wenigstens nächste Woche.
Wer mindestens ein- oder zweimal wöchentlich ein und dasselbe Lokal aufsucht, der lebt nicht nur zwangsläufig mit dem stillen Mann an der Bar, mit der redseligen Blondine oder mit der lauten Gruppe nebenan. Wahrscheinlich sucht er genau das. Zumindest in Wien, wo ein Mangel an Auswahl vielerorts kaum gegeben ist. Dass Freunde und Bekannte auch hingehen, es sich direkt "ums Eck" oder wenigstens in der Nähe befindet und dass Ambiente sowie Service passen, ist den meisten Gästen, die regelmäßig das gleiche Lokal aufsuchen, laut einer privaten Umfrage mit Abstand am wichtigsten.
Daniel Landau, seit mehr als zwei Jahren einer der Betreiber des Kulturcafés Tachles am Karmeliterplatz, weiß, wie wichtig auch die persönliche Ansprache ist: "Mindestens einer von uns Inhabern ist praktisch immer da." Der Lehrer, der sich erst 2010 für den Weg in die Gastronomie entschieden hat, sagt: "Unsere Gäste wollen genau dieses Familiäre. Und natürlich die Qualität unserer Küche, das Biersortiment, das wir ganz bewusst von kleineren Brauereien beziehen, das zeitlose, gemütliche Ambiente - die Leute sollen es einfach so stressfrei wie möglich haben." Dass Landau und sein Team bei der Übernahme nicht gerade viele Stammgäste "mitnehmen" konnten, weil es nur wenige gab, ist für ihn kein Nachteil. So konnte man ganz neu beginnen und "ziemlich gut steuern, welches Publikum wir anziehen". Die meisten kommen aus der Umgebung - immer wieder.
Persönliche Ansprache#
"Mehr als zwei Drittel der Gastronomen leben vor allem von Stammgästen", weiß Willy Turecek, Obmann der zuständigen Fachgruppe in der Wirtschaftskammer Wien. Im Gegensatz zu Ländern wie den USA, wo man eher auf private Veranstaltungen setze, treffe man sich in Wien hauptsächlich im Wirtshaus, in der Bar, im Café ums Eck. Auch Turecek weiß, dass der "typische Stammgast" besonderen Wert auf die persönliche Ansprache legt: "Vom Inhaber bis zur Servicekraft, die weiß, wie ich meinen Cappuccino immer trinke."
Man komme dann regelmäßig, wenn man sich wohlfühlt, das bekommt, was man möchte. Und Gleichgesinnte trifft: "Schauen Sie sich etwa entlang der Ottakringer Straße oder rund um die Märkte um", sagt Turecek. Dort, wo sich etwa die Communitys sogenannter Drittländer treffen. Oder Männer und Frauen, die täglich den Würstelstand am Franz Jonas Platz aufsuchen. Sie alle wollen neben der Verpflegung vor allem eines: Ansprache finden. Auch ein Stammgast des legendären Café Gutruf in der Milchgasse bezeichnet dieses als sein "zweites Wohnzimmer", weil er hier inspirierende Gespräche führen kann, Ruhe findet, wenn er sie braucht, sich unter "Seinesgleichen" fühlt, wie er erzählt.
Die anderen Gäste sind übrigens fast immer ein wesentlicher Faktor für die Wahl des jeweiligen Stammlokals. Knapp ein Drittel der Befragten würde auf den Besuch desselbigen verzichten, blieben seine Bekannten bzw. Freunde fern. Schlechteres Service und ein Inhaber-Wechsel wären weitere Gründe, zu Hause zu bleiben.
Ort, um Probleme zu teilen#
Sollten Sie also demnächst Ihren Wohnort wechseln, dann schließen Sie die Lokale in Ihrer möglicherweise künftigen Umgebung gut in Ihre Recherche ein. Spätestens, wenn es hart auf hart kommt, wünschen Sie sich doch auch einen Ort, an dem Sie Ihren Liebeskummer oder den Frust im Job teilen können. Und sollten Sie in den neuen vier Wänden von einem Wasserschaden heimgesucht werden, dann findet sich in Ihrem Stammlokal bestimmt jemand, der auch spätabends weiß, wie man diesen repariert. Oder jemanden kennt, der weiß, was zu tun ist . . . Glauben Sie "geübten" Stammgästen: Spätestens dann wird man Sie dort auch beim Namen kennen und der Kellner wird ab sofort wissen, ob Sie passend zur Extremsituation lieber ein kaltes Bier, einen süffigen Rotwein oder einen Cappuccino mit viel Zucker wünschen.